Kommentar

Zwischen den Stühlen

Der Einmarsch der Türkei in den Nordirak kann als Zugeständnis von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan an das konservative Militär verstanden werden. Derweil prüft das türkische Verfassungsgericht eine Klage eines Staatsanwalts, der die Regierungspartei AKP verbieten lassen will. Erdogan steht unter vielfältigem Druck – entsprechend widersprüchlich ist seine Politik.

[ Von Canan Topçu ]

Die Aufhebung des Kopftuchverbots an türkischen Hochschulen war ein Wahlversprechen Erdogans. Als es dann soweit war, protestierten in türkischen Großstädten Zehntausende – sie sahen den Laizismus bedroht und fürchteten eine Islamisierung des Landes.

Erdogan ist Anhängern des Kemalismus ein Dorn im Auge. Der Republikgründer Mustafa Kemal, genannt Atatürk, sah im Islam eine Gefahr für den modernen türkischen Staat. Und so hält ein Teil der Gesellschaft Erdogan für einen Wolf im Schafspelz, der das gesellschaftliche und politische Leben der Türkei dem Islam unterwerfen will.

Wolf im Schafspelz oder Reformer – was ist Erdogan wirlich? Seine Politik ist widersprüchlich. Was Außenstehende nicht wissen können, ist, dass dies in Eigenheiten des türkischen Staats wurzelt. So wird beispielsweise in der Geburtsurkunde jedes Kindes als Religion Islam eingetragen. Eltern können das nur per Antrag ändern lassen. Zugleich gibt es das Kopftuchverbot in staatlichen Einrichtungen – und bis vor kurzem eben auch an Unis. Im kemalistischen Verständnis bedeutet Säkularismus nicht Religionsfreiheit, sondern Kontrolle des Glaubens durch den Staat.

Derweil gilt die theologische Fakultät in Ankara als Keimzelle aller religiösen Reformanstöße. Vertreter dieser Schule finden, der Koran müsse zeitgemäß, also nicht wort-wörtlich ausgelegt werden. Sie bestehen auch nicht auf Kopftüchern und anderen überholten Konventionen.

Reformen kennzeichnen Erdogans Politik. Unter ihm hat sich das Pro-Kopf-Einkommen verdoppelt, die Inflation ist gering wie nie, die EU-Verhandlungen haben begonnen. Derweil eckt Erdogan beim kemalistischen Establishment, das um seine Macht fürchtet, an. Kurz vor Redaktionsschluss begann denn auch das Verfassungsgericht eine Klage eines Staatsanwalts zu prüfen, der die demokratisch legitimierte Regierungspartei AKP verbieten lassen will. Dieses Verfahren kann das Land in eine tiefe Krise stürzen. Erdogan hat außerdem Gegner in den Geheimdiensten und unter Nationalisten. Letztere werfen ihm Ausverkauf vor. Immer mehr ausländische Firmen investieren in der Türkei. Andere erkennen an, dass Erdogan volkswirtschaftliche Erfolge zu verdanken sind.

Erdogan, geläuterter Islamist und gläubiger Moslem, wuchs im Istanbuler Armenviertel Kasimpasa auf. Er bürgt beim Volk für Authentizität. Er ist einer von ihnen, weiß um ihre Nöte und Sorgen. Vom Oberbürgermeister der Metropole Istanbul stieg der 53-Jährige – mit Umweg über das Gefängnis – bis zum Ministerpräsidenten auf. Seit seinem Amtsantritt im Frühjahr 2003 hat er vieles bewerkstelligt, wozu seine Vorgänger nicht fähig waren.

Auf dem Weg in Richtung EU macht sich Erdogan nicht nur Freunde. Gerade beim Militär hat er Widersacher. Für den Generalstab, der sich als Hüter des Kemalismus sieht, bedeutet der EU-Beitritt Entmachtung. Mit drei Putschs und mehreren Androhungen hat sich das Militär bisher seine Privilegien gesichert. Als Zugeständnis an das Militär ist daher die Entscheidung des Parlaments im vergangenen Herbst zu verstehen, dem Einmarsch in den Nordirak zuzustimmen. Der Feldzug ist inzwischen wieder gestoppt.

Erdogans Gegner nutzen die Angst der Bevölkerung vor einem islamischen Umsturz, um den Status quo zu erhalten und ihre Positionen zu verteidigen. Der Premier muss Anhängern wie Gegnern entgegenkommen, um das Land zu modernisieren und den Beitritt zur EU voranzubringen. Die Angst vor radikaler Islamisierung der Türkei ist aber unberechtigt. Was die Aufhebung des Kopftuchverbots betrifft: Es war an der Zeit. Kein demokratischer Staat schließt junge Frauen von Bildung aus, nur weil sie dieses oder jenes Kleidungsstück schätzen. Skeptiker sollten Erdogan an seinen Taten messen – nicht an der Angstrhetorik der Kemalisten.