Kommentar
Wenig Zeit zum Luftholen
[ Von Frank Herrmann ]
Mitch, Stan, Agatha: Namen, die uns wenig sagen, die aber in Mittelamerika jedes Kind kennt. So heißen die Wirbelstürme, die 1998, 2005 und 2010 große Teile Guatemalas, El Salvadors, Honduras und des südlichen Mexikos verwüsteten.
Allein Hurrikan Mitch, der drittstärkste atlantische Tropensturm seit 1780, forderte mehr als 11 000 Todesopfer und verursachte einen Schaden von rund 6 Milliarden Dollar. Hurrikan Stan fielen 2005 weit mehr als 1000 Menschen zum Opfer. Und 2010 fiel beim Tropensturm Agatha in wenigen Stunden so viel Regen wie sonst in einem Monat.
Besonders betroffen war Guatemala. Hier starben rund 165 Menschen, mehr als 180 000 wurden evakuiert, viele verloren ihre Häuser. Doch Agatha war nur der Auftakt zur schlimmsten Regenzeit seit rund 70 Jahren. Das kleine zentralamerikanische Land hat – wie auch seine Nachbarn Honduras, El Salvador und das südliche Mexiko – neben Toten und Obdachlosen immense Schäden an der Infrastruktur zu beklagen, darunter Hunderte eingestürzter Brücken, Tausende zerstörte Gebäude und Straßen.
Doch von dem Drama nimmt die Weltöffentlichkeit kaum Notiz. Zu wenig wirtschaftliche Bedeutung und internationale Lobby hat Mittelamerika. Zynischerweise muss man hinzufügen: Zu wenige Opfer waren es 2010, als dass es für eine Spendengala wie für die Erdbebenopfer in Haiti oder zumindest für eine Sondersendung wie für die Flutgeschädigten in Pakistan gereicht hätte.
Dabei hätten Honduras, El Salvador und Guatemala die Unterstützung dringend nötig. In allen drei Ländern lebt ein Großteil der Bevölkerung in Armut, die Einkommen liegen außerhalb der Städte meist unter 100 Euro pro Monat. Subsistenzlandwirtschaft ist weit verbreitet, Einnahmen erzielen die Bauern meist nur mit Kaffee oder Exportgemüse. Wirbelstürme, Erdbeben und Dürreperioden gefährden die Ernten der Kleinbauern – Unterernährung und Hungertote sind die Folgen.
In Guatemala verschärfte 2009 eine verheerende Trockenperiode die ohnehin prekäre Ernährungslage: 90 % der Ernte wurde vernichtet. Bis März 2010 verhungerten rund 460 Menschen, darunter 54 Kinder. Etwa jeder fünfte Bewohner Guatemalas lebt mit dem Risiko der Nahrungsmittelunsicherheit. Auch 2010 vernichteten starke Regenfälle und Überschwemmungen Ernten – für 2011 ist daher in einigen Landesteilen erneut mit Hunger zu rechnen.
Besonders anfällig bei Stürmen ist zudem die dörfliche Infrastruktur. Die meist einfachen Hütten aus Lehmziegeln oder Hohlblocksteinen sind überwiegend ohne Eisenverstärkungen konstruiert und auf ungeeignetem Gelände errichtet. Um die Dörfer herum werden an Steilhängen Wälder abgeholzt, um neue Anbauflächen und Brennmaterial zu gewinnen.
Gerade nach den großen Wirbelstürmen offenbart sich daher schonungslos die prekäre Lage vieler Menschen auf dem Land sowie der Bewohner der Elendsviertel der Großstädte. Die letzten zwölf Jahre haben gezeigt, dass die Regierungen mit der Prävention und Schadensbeseitigung schlichtweg überfordert sind. Es fehlen
finanzielle Mittel, Koordinierung und Masterpläne. Repariert werden meist nur noch die Hauptverkehrsachsen, auf Nebenstraßen werden gerade mal die Schlaglöcher gestopft. Krisenvorsorge wird nur in begrenztem Umfang und dann meist im Rahmen von Entwicklungsprojekten durchgeführt. Die Abstände zwischen den Naturkatastrophen lassen den Regierungen derweil immer weniger Zeit für Wiederaufbau. Gelder, die für den Aufbau der Infrastruktur benötigt werden, fehlen für Bildung, Erziehung oder Gesundheit. Der Teufelskreis der Armut schließt sich.
Doch die Zeit drängt. Für Mittelamerika ist eine Zunahme von Wirbelstürmen prognostiziert. Nur wenn die Armut beseitigt und die Infrastruktur auf solide Füße gestellt wird, können die Länder Mittelamerikas zukünftig aus Wirbelstürmen mit einem blauen Auge davonkommen. Schön wäre es dann, in den Schlagzeilen der Weltmedien zu lesen: „Mittelamerika überstand gefährlichen Hurrikan ohne nennenswerte Schäden.“