Forschung

Mehr als Geldmangel

In Forschung, Politik und Praxis besteht ein breiter Konsens darüber, dass Armut weit mehr bedeutet als ein bloßer Mangel an Einkommen und Vermögen. Im Kern eines multidimensionalen Armutsverständnisses stehen dabei besonders die sogenannten „harten“ Grundbedürfnisse wie Gesundheit, Ernährung, Obdach, Sicherheit oder Bildung. Demgegenüber finden jedoch auch zunehmend „weiche“, immaterielle Grundbedürfnisse Eingang in die Betrachtung. Dazu zählen unter anderem soziale und politische Partizipation, Selbstbestimmung oder auch subjektives Wohlbefinden und Glück.
In Venezuela und Sri Lanka haben die Menschen in etwa die gleiche Lebenserwartung. Venezolaner – wie dieses alte Bauernpaar – empfinden aber laut Forschung deutlich mehr „glückliche Lebensjahre“ als Sri Lanker. Weise/Lineair In Venezuela und Sri Lanka haben die Menschen in etwa die gleiche Lebenserwartung. Venezolaner – wie dieses alte Bauernpaar – empfinden aber laut Forschung deutlich mehr „glückliche Lebensjahre“ als Sri Lanker.

Es kann aus unterschiedlichen Gründen sinnvoll sein, objektive Lebensstandards durch subjektive Kriterien wie „Glück“ oder „Lebenszufriedenheit“ zu ergänzen. Die Grundbedürfnisse für Lebensstandards können sich regional unterscheiden und sie können sowohl von sozialen Werten als auch von der individuellen Selbsteinschätzung abhängen. Hinzu kommt, dass gängige Erfassungsmethoden von Lebensstandards wie der Human Devel­opment Index (HDI) der UN die tatsächlichen Lebensbedingungen innerhalb eines Landes nur unvollständig abbilden und hinsichtlich ihrer Auswahl, Gewichtung und Aggregation von Indikatoren häufig in der Kritik stehen.


Definition des Glücksbegriffs

Eine zentrale Bedeutung bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Glück kommt der Definition des Begriffs zu. Eine allgemeingültige Definition bietet sich dabei nicht an, da Glück stets subjektiv empfunden wird und damit impliziert, dass individuelle Präferenzen entscheiden, welche Faktoren ein glückliches Leben ausmachen. Auch wenn beide Begriffe häufig synonym verwendet werden, bestehen grundsätzlich konzeptionelle Unterschiede zwischen „Glück“ und „Lebenszufriedenheit“. Während der Begriff „Glück“ auf ein momentbasiertes, temporäres Gefühl wie Freude oder Vergnügen abzielt, ist der Terminus „Lebenszufriedenheit“ auf eine erinnerungsbasierte Einschätzung der gesamten Lebenssituation ausgerichtet.

Mittlerweile hat sich die Glücksforschung zum Ziel gemacht, bestimmende Faktoren des Glücks zu untersuchen. Dabei besteht ein breiter Konsens über wesentliche Einflussfaktoren. Grundsätzlich kann zwischen „externen“ und „persönlichen“ Bedingungen unterschieden werden. Zu den „externen Faktoren“ zählen beispielsweise ökonomische Größen wie Einkommen, Beschäftigung (Vorhandensein von Arbeit und Arbeitsbedingungen) und Ungleichheit, aber auch gesellschaftliche Aspekte wie soziale Integration, Grundrechte sowie politische Aspekte wie die Form der Regierungsführung und Korruption. Die „persönlichen Faktoren“ beziehen sich beispielsweise auf die Gesundheit (körperliche und mentale Gesundheit), die familiären Bedingungen (Partnerschaftsverhältnis und Vorhandensein von Kindern), demografische Aspekte (Geschlecht und Alter) sowie den individuellen Bildungsgrad.


Keine Kausalität zwischen Armut und Glück

Für die Entwicklungsforschung ist es sinnvoll, das empirische Verhältnis zwischen Armut und Glück zu betrachten. Aufgrund diverser Überschneidungen zwischen den Einflussgrößen beider Phänomene wird zunächst intuitiv angenommen, dass Armut und Glück eine stark negative Korrelation aufweisen. Tatsächlich gibt es jedoch zwei entgegengesetzte Ergebnisse, die auch als das sogenannte „Easterlin-Paradox“ (Easterlin, 2001) bekannt sind: Während zu einem bestimmten Zeitpunkt Menschen in höher entwickelten Gesellschaften dazu neigen, glücklicher zu sein als Menschen in weniger entwickelten Gesellschaften, steigt innerhalb einer Gesellschaft über die Zeit hinweg – auch bei steigendem Grad menschlicher Entwicklung – das Wohlbefinden nicht an. Vor allem zwei Faktoren liefern Erklärungsansätze für dieses Phänomen: Zum einen wertschätzen Individuen soziale Vergleiche und damit die relative Lebenslage häufig höher als die tatsächliche Lebenssituation. Dies verdeutlicht unter anderem die hohe Bedeutung von Ungleichheit und sozialer Kohäsion.  Zum anderen gibt es eine sich verändernde Beziehung zwischen Wohlstand, Glück und den Ansprüchen eines Individuums: Mit steigendem Einkommen im Verlauf der Karriere kommt es auch zu einer stetigen Anpassung der Lebensansprüche.

Grundsätzlich erscheint eine gewisse Variation zwischen Wohlstand und Glück offensichtlich, da beide Phänomene zwar gemeinsame Determinanten aufweisen, jedoch auch wesentliche charakteristische Unterschiede bestehen. Demnach liegt keine Kausalität zwischen Armut und Glück vor. Umso wichtiger ist die Berücksichtigung des subjektiven Wohlbefindens in der fortlaufenden Diskussion über Lebensumstände und Entwicklungsindikatoren. Das folgende Beispiel verdeutlicht dies: Die durchschnittliche Lebenserwartung ist ein gängiger Gesundheitsindikator und wird als Kennzeichen der Lebensqualität eines Landes verwendet. Dabei könnte man annehmen, dass eine geringere Lebenserwartung in einem Land ein höheres Maß an Armut und somit ein geringeres Maß an Glück impliziert.

Tatsächlich gibt es jedoch eine Vielzahl von Beispielen, bei denen das Gegenteil der Fall ist. Fasst man beispielsweise die Lebenserwartung und die Lebenszufriedenheit in einem kombinierten Indikator, den sogenannten „Happy Life Years“ (Veenhoven, 2004) zusammen, zeigt sich, dass eine höhere Lebenserwartung nicht zwangsläufig mit einem glücklicheren Leben einhergeht. Während einige Länder eine ähnliche durchschnittliche Lebenserwartung aufweisen, bestehen teils erhebliche Unterschiede in der Anzahl der „glücklichen Lebensjahre“. Andere Länder weisen wiederum enorme Unterschiede bei der durchschnittlichen Lebenserwartung auf, erreichen dafür vergleichbar viele „glückliche Lebensjahre“. Eine grundsätzliche Bewertung der Ergebnisse ist nur schwer möglich, und es erscheint willkürlich, festzulegen, ob eine durchschnittlich höhere aber unglücklichere Lebenszeit, einer kürzeren, aber glücklicheren Lebenszeit vorzuziehen ist. Derartige Vergleiche zeigen zudem die hohe Bedeutung der Indikatorauswahl zur Erfassung der Lebensbedingungen in einem Land. Kein einzelner Indikator und kein aggregiertes Set an Indikatoren kann die mehrdimensionalen Lebensbedingungen vollständig abbilden. Eine Betrachtung verschiedener nebeneinander gestellter Werte wird dem Phänomen daher eher gerecht. Dabei sollte die subjektive Perspektive von Individuen als komplementärer Faktor künftig stärker in die Diskussion mit aufgenommen werden.


Sebastian Rewerski arbeitet als Junior-Politikberater bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Der Autor äußert hier seine persönliche Meinung. Er wünscht nicht, dass sein Bild veröffentlicht wird.
sebastian.rewerski@hotmail.com


Literatur

Easterlin, R. A., 2001: Income and happiness: Towards a unified theory. The Economic Journal. Vol. 111, pp. 465-484.

Veenhoven, R., 2004: Happy life years.
https://personal.eur.nl/fsw/research/veenhoven/Pub2000s/2004b-full.pdf