Vergangenheitsbewältigung
Das Schweigen brechen
Letztes Jahr, im Sommer 2013, geschah, woran kaum jemand in Guatemala noch zu glauben wagte: Ein Gericht verurteilte den Ex-Diktator José Efraín Ríos Montt wegen Völkermords an der Volksgruppe der Ixil-Maya und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 80 Jahren Haft. Während des 36-jährigen Bürgerkriegs von 1960 bis 1996 starben in Guatemala nach UN-Schätzungen rund 200 000 Menschen. In die 18-monatige Regierungszeit des Putsch-Generals Montt 1982 bis 1983 fielen die meisten Massaker an der Zivilbevölkerung. Das Urteil von 2013 bestätigte erstmals von staatlicher Seite, dass es sich dabei um Genozid handelte. Es war zudem der erste Richterspruch, der einen ehemaligen lateinamerikanischen Staatschef im eigenen Land wegen Völkermords verurteilt.
Dieses historische Urteil war unter anderem deshalb möglich, weil Opfer von damals vor Gericht aussagten und sich öffentlich an die Gräueltaten erinnerten. Viele Ixil-Maya nahmen lange Reisen auf sich, um vor Gericht auszusagen. Vor allem die Berichte der Frauen über Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt erregten große Aufmerksamkeit: Nach Jahren des Schweigens brachen sie öffentlich ein Tabu.
Der lange Weg in den Zeugenstand
Der 1999 veröffentlichte Bericht der Wahrheitskommission „Memoria del Silencio“ spricht von sechs Arten von Menschenrechtsverletzungen, die während des Bürgerkriegs verübt wurden. Dazu zählen auch systematische Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen, verübt vor allem durch das Militär. Die Folgen prägen das Leben der Opfer bis heute. Viele vergewaltigte Frauen wurden von der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen, wurden ungewollt schwanger oder krank. Andere behielten ihre Erlebnisse für sich und ertrugen aus Angst vor Ablehnung die Scham und das Leid allein. Die Opfer wurden zudem jahrelang zum Schweigen gezwungen.
In den letzten Jahren aber haben sie sich zusammengetan und den Mut gefunden, die Verbrechen anzuklagen – auch vor Gericht. Ein Vorreiter bei der Aufarbeitung der Vergangenheit war das Kollektiv Actoras de Cambio. Eine Gruppe von Frauen gründete die Initiative 2004, um die Wunden des Krieges zu heilen und Frieden zu schaffen. Sie wollten das Schweigen zum systematischen sexuellen Missbrauch an Frauen während des Kriegs brechen und den Opfern helfen, mit ihrer Vergangenheit zu leben.
Dafür arbeitete Actoras de Cambio eng mit Maya-Führerinnen zusammen. Sie begannen mit der individuellen Heilung der Betroffenen und gaben ihnen die Kraft zurück, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Sie nutzten Methoden aus der Maya-Kosmovision ebenso wie aus der energetischen Psychotherapie, der Bewegungs- und Kunsttherapie sowie Atemübungen. Durch ihre feministische Sichtweise halfen sie den Frauen zu erkennen, wie sie sich aufgrund der Aneignung ihrer Körper durch Fremde von ihrer eigenen Sexualität entfremdeten.
„Um die Traumata nach einer Vergewaltigung im Krieg zu heilen, muss man das Erlebte geschichtlich einordnen“, erklärt Liduvina Méndez von Actoras de Cambio. „Die Opfer müssen die Gründe für die Tat erkennen und verstehen, dass sie Teil der gemeinsamen Geschichte ihrer Gesellschaft sind – dass ihre Vergewaltigung also kein für sich stehendes persönliches Erlebnis ist.“
So schaffte es Actoras de Cambio schließlich tatsächlich, das Tabu zu überwinden. Nach fünf Jahren wagten sich die Frauen erstmals an die Öffentlichkeit: „Auch wenn es uns Angst macht, sind wir nun bereit, mit der Gesellschaft über das Thema zu reden“, sagten sie. Sie veranstalteten ein erstes Event mit Regierungsvertretern in der Hauptstadt sowie zahlreiche regionale Veranstaltungen unter dem Slogan: „Ich bin die Stimme der Erinnerung und der Körper der Freiheit“. Die Frauen zeigen unglaublichen Mut, erzählt Liduvina Méndez. Vor ihren Dorfgemeinschaften sprechen sie nun offen über sexuellen Missbrauch. Immer mehr Frauen und Mädchen fassen dadurch den Mut, sich ihnen anzuschließen. Diese Frauen haben nicht nur den Krieg überlebt, sondern leiden auch heute noch unter vielen Formen der Gewalt.
Kein Frieden ohne Erinnerung
In der Öffentlichkeit wird Frieden oft als Synonym von „Vergessen“ dargestellt. Aber die Wahrheit lässt sich nicht verkleiden. Um Gerechtigkeit empfinden zu können, fordern die betroffenen Frauen, dass die staatlichen Institutionen die Verantwortung für die gegen sie verübten Verbrechen übernehmen und garantieren, dass dies nicht wieder geschehen werde.
„Wir bestehen darauf, nicht zu vergeben, nicht zu vergessen und uns nicht zu versöhnen, denn das hieße, die Realität zu negieren“, betont Dulce Cabrera, eine junge Aktivistin der Organisation HIJOS, in der sich die Kinder von Verschwundenen zusammengeschlossen haben. „Frieden lässt sich nur auf Gerechtigkeit aufbauen. Dafür müssen Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord vor Gericht gebracht werden.“ Es gelte aufzuklären, wo die Verschwundenen geblieben sind, um den Opfern ihre Würde wiederzugeben. „Die Wahrheit darf nicht weiter versteckt werden, denn die Strukturen haben sich noch nicht geändert.“
In den letzten Jahren sind in Guatemala mehrere Initiativen für alternative Kommunikation entstanden, die den Machismus, den Rassismus und das Klassendenken in der Gesellschaft anprangern. Immer mehr Frauen beteiligen sich an diesen kommunalen Radios oder drücken sich in sozialen Netzwerken und Meinungskolumnen aus. Sie diskutieren über Tabuthemen und machen Frauen als Bürger mit Rechten und als politische Akteurinnen sichtbar.
Norma Chamalé, eine Maya-Frau vom Zentrum der Unabhängigen Medien (Centro de Medios Independientes, CMI) erklärt: „Als unabhängige Medien spüren wir die Erzählungen und Bilder der Frauen aus den Widerstandgebieten auf. Wir berichten über ihre aktive Partizipation und tragen so dazu bei, Stereotype zu widerlegen. Indem wir die Vergangenheit rekonstruieren, entwerfen wir unsere Wirklichkeit neu.“
Auf der Suche nach Gerechtigkeit
Es war schließlich auch dem Engagement einer Frau zu verdanken, dass der Prozess wegen Völkermords überhaupt geführt werden konnte, der so große Bedeutung für das Land und das Leben der Frauen hatte: Erst die Nachforschungen der Generalstaatsanwältin Claudia Paz y Paz Bailley, der ersten Frau auf diesem Posten, ermöglichten eine Anklage. Die Magazine Newsweek und Forbes bezeichneten Paz y Paz Bailley daraufhin als eine der mutigsten Frauen der Welt, und „Plataforma 51 Guatemala“, ein Online-Forum gegen Gewalt an Frauen, nannte sie die „Staatsanwältin der Würde“.
Am 10. Mai 2013 verurteilte das Strafgericht in Guatemala-Stadt unter der Leitung der Richterin Jazmín Barrios General Ríos Montt und seinen damaligen Geheimdienstchef zu langen Haftstrafen. Das Urteil bestätigt nicht nur den Völkermord, sondern auch, dass unter dem Kommando Ríos Montts „individueller sowie kollektiver sexueller Missbrauch an Frauen begangen wurde, die zur ethnischen Gruppe der Ixil-Mayas gehören“. Zwar wurde das Urteil nur wenige Tage später wegen formaler Mängel wieder aufgehoben. Allein dass es dazu kam, kann aber schon als historisches Ereignis gewertet werden.
„Das Urteil belegt historische Tatsachen. Trotz der Aufhebung ist es sehr wichtig, da so viele Überlebende der getöteten Familien öffentlich gehört wurden“, sagt Libertad Rian, eine 25-jährige Feministin der Q’eqchi’-Maya. „Ihre Aussage sowie die historischen Nachforschungen, die anlässlich des Prozesses betrieben wurden, haben es endlich bewiesen: Ja, es hat im bewaffneten Konflikt einen Völkermord und Vergewaltigungen an Frauen gegeben!“ Erst kürzlich begann nun auch das Verfahren wegen Brandstiftung an der spanischen Botschaft, bei der im Jahr 1980 37 Menschen starben. Die Toten waren zumeist indigene Bauern, unter ihnen der Vater der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú Tum. Menchú Tum hat den Fall hartnäckig verfolgt und tritt nun als Klägerin auf.
Ebenfalls eröffnet wurde das Verfahren gegen zwei Mitglieder des Militärs, die wegen Sexsklavenhaltung und sexuellen Missbrauchs an Q’eqchi’-Frauen im Ort Zepur Zarco während des bewaffneten Konflikt angeklagt sind. „Die Suche nach Gerechtigkeit ist Teil der Wiedergutmachung“, erklärt Manuela Alvarado, eine K’iche’-Maya und ehemalige Abgeordnete (1996 bis 1999). „Für Gerechtigkeit muss der Staat politische, wirtschaftliche und soziale Konditionen schaffen, die es Frauen ermöglichen, ihre Stimme und Lebensfreude wiederzuerlangen. Sie müssen in Würde leben und am öffentlichen Leben und an Entscheidungsprozessen teilhaben können. Ihr Wert und ihr Mut müssen anerkannt werden.“
Patricia Galicia ist eine Radioredakteurin aus Guatemala-Stadt.
patigalicia@yahoo.com
Links:
Bericht der Unidad de Defensores y Defensoras de Derechos Humanos (UDEFEGUA) 2011–2013:
http://ow.ly/Es0YZ
Plataforma 51 Guatemala:
http://www.plataforma51.org/
Centro de medios independientes:
http://cmiguate.org/