Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Fragile Staaten

„Die Öffentlichkeit will keine Märchen mehr“

Viel zu sehr und viel zu lange konzentrierte sich die offizielle Entwicklungshilfe auf die Kooperation mit Middle-Income-Ländern, argumentiert der Oxforder Wirtschaftsprofessor Paul Collier in seinem Buch „The bottom billion: Why the poorest countries are failing and what can be done about it“. Um den ärmsten und krisenanfälligsten Ländern wirklich zu helfen, reichen die gängigen Konzepte nicht aus.

[ Interview mit Paul Collier ]

Sie sagen, Hilfsorganisationen müssten risikofreudiger werden. Ohne Fehlschläge zu riskieren, könnten sie nicht dort arbeiten, wo die Not am größten ist. Sehen Sie solchen Wandel?
Ja, es gibt die Tendenz, finanzielle Ressourcen und Personal in den wirklich schwierigen Einsätzen aufzustocken. Außerdem wächst das Verständnis, dass Ansätze, die in einfachen und vielversprechenden Situationen funktionieren, nicht auf extrem arme Länder und Krisenstaaten übertragbar sind.

Ihrer Ansicht nach brauchen diese Länder technische Zuzsammenarbeit dringender als finanzielle. Das widerspricht dem aktuellen internationalen Diskurs. Budgethilfe ist der Bereich, in dem die verschiedenen Geber am besten zusammenarbeiten.

Das stimmt, aber Budgethilfe ist die richtige Lösung für eine andere Sachlage. Sie greift, wenn Regierungen bereits einigermaßen kompetent sind. Dagegen ist sie die falsche Reaktion, wenn Verwaltung und Finanzierungsprozess marode sind. In solchen Fällen verschwenden die Geber nicht einfach nur Geld. Sie stärken genau die Kräfte, die diesen Gesellschaften am meisten schaden. Andererseits führen eine kaputte Verwaltung und die Abwanderung ausgebildeter Fachkräfte zu einem Mangel ganz verschiedener Fähigkeiten. Der Bedarf an technischer Zusammenarbeit ist daher groß. Außerdem muss die institutionelle Architektur erneuert werden. Auf jeden Fall werden sehr viele Leute gebraucht.

Sie meinen, es ist egal, ob Ausländer oder Einheimische diese Aufgaben übernehmen?

Natürlich ist es sinnvoll, Mitglieder der Diaspora zur Rückkehr zu bewegen. Das kann auch systematisch geschehen. Andererseits haben Ausländer, insbesondere junge Ausländer, den Vorteil, dass sie nicht als politische Bedrohung empfunden werden. Die Diaspora bringt immer politisches Gepäck mit, während junge Ausländer keine Gefahr darstellen.

Aber haben sie auch die notwendigen Fähigkeiten?

Viele dieser Fähigkeiten sind recht banal, also: ja.

Kritiker argumentieren seit Jahren gegen technische Zusammenarbeit. Sie sei zu stark von den Vorstellungen der Geber beeinflusst und zu teuer; außerdem fließe der Löwenanteil in die Gehälter westlicher Akademiker.

Das sind unterschiedliche Dinge. Technische Zusammenarbeit wird tatsächlich zu oft von den Gebern bestimmt. Sie spulen ihre Standardprogramme ab und beachten nicht immer, ob sie auch passen. Nach dem Ende eines Bürgerkrieges oder wenn politischer Wandel Chancen eröffnet, ist technische Hilfe situationsbedingt nötig. Ich glaube nicht, dass Geber solche politischen „Fenster“ herbeiführen können. Sie entstehen durch interne Entwicklungen. Technische Zusammenarbeit bewirkt wenig, solange ein Land keine vernünftige politische Führung hat. Aber sobald sich solch eine herausbildet, braucht sie eine funktionierende Verwaltung, um kluge Politik zu implementieren. Dann ist technische Hilfe gefragt – schnell und in großem Umfang.

Bitte nennen Sie ein Beispiel.

Als Liberia endlich eine vernünftige Präsidentin hatte und eine gute Finanzministerin, entließen sie als Erstes die Mitarbeiter des Finanzministeriums. Das war eine sehr gute Entscheidung. Am Tag danach aber fehlte Fachpersonal. Auch eine politische Führung mit den besten Intentionen erreicht nichts ohne funktionierende Verwaltung. Daher ist es sinnvoll, für diese Arbeit fähige Mitglieder der Diaspora und Ausländer einzufliegen. So lässt sich etwas bewegen. Weil solche Zeitfenster nicht sehr lange offenstehen, sollte technische Hilfe ähnlich gehandhabt werden wie humanitäre Hilfe. Sie wird in Notsituationen gebraucht.

Es ist also in Ordnung, Geld für ausländische Experten auszugeben?

Das Argument, dass an Ausländer gezahltes Geld keine Hilfe sei, ist nicht berechtigt. In den Situationen, von denen ich spreche, sieht es so aus: Schickt man anstelle von Leuten Geld, wird es veruntreut. Aus offensichtlichen Gründen haben die Leute, die Mittel veruntreuen wollen, kein Interesse an technischer Hilfe. Denn sie bedroht den existierenden Verwaltungsapparat, der ein Teil des Problems ist – aber nicht der Lösung. In solchen Situationen wirkt Geld also kontraproduktiv.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Infrastruktur extrem wichtig, aber seit langem aus der Mode sei. Ändert sich das?

Das Problem beim Aufbau von Infrastruktur ist, dass sie das Epizentrum korrupter Regierungsführung ist. Man darf also nicht einfach Infrastrukturprojekte und -programme ausweiten, sondern muss die Geldflüsse viel genauer überwachen. Denn ordentliche Infrastrukturprojekte sind unbedingt notwendig, weil sonst die Wirtschaft niemals in Schwung kommt. Der positive Aspekt ist, dass viele Post-Konfliktländer in solch desolatem Zustand sind, dass Infrastrukturinvestitionen sehr viel Gutes bewirken können. Und wenn die Wirtschaft zehn Jahre lang als Konsequenz wächst, ändert sich die Gesellschaft und wird friedlicher.

Strengere Korruptionskontrolle bedeutet aber auch höhere Kosten.

Sicher, die Implementierungskosten sind unter schwierigen Voraussetzungen sehr hoch. Es ist aber lächerlich, sich vorzustellen, man könnte mit niedrigen Verwaltungskosten viel Geld in fragile Staaten und ihr kompliziertes Umfeld bringen.

Auch das widerspricht dem gängigen Entwick­lungsdiskurs. Der fordert niedrige Verwaltungskosten, damit möglichst viel Geld den Armen zugutekommt. Ist die Öffentlichkeit in den Geberländern von der Notwendigkeit hoher Verwaltungskosten zu überzeugen?

Selbstverständlich. Die Öffentlichkeit ist sehr skeptisch geworden, ob die Hilfsorganisationen Wandel herbeiführen können. Sie will keine Märchen mehr hören. Daher kommt es ohnehin darauf an, realistisch zu sein.

In Ihrem Buch betonen Sie, dass neben Entwick­lungshilfe auch militärische Sicherheit und internationaler Handel sehr wichtig sind. Sie schlagen beispielsweise Abkommen zu Investorenrechten vor. Die aber lehnt die große Mehrheit der regierungsunabhängigen Entwicklungsorganisationen (NRO) ab.

Ich glaube, dass die NRO das Thema wirklich durchdacht haben. Es ist offensichtlich, dass wir in armen und fragilen Ländern nur niedrige, schlechte und kurzfristige Investitionen sehen werden, bis das Enteignungsrisiko ausgeschlossen ist. Das muss geschehen, damit es hochwertige und langfristige Investitionen gibt. Aber Regierungen von Krisenländern selbst können das nicht garantieren. Schließlich sind sie oft nicht glaubwürdig. Um ihnen diese fehlende Glaubwürdigkeit zu geben, brauchen wir internationale Regeln. Die großen Gewinner einer internationalen Regelung von Investorenrechten wären die Länder, die andernfalls nicht glaubwürdig sind.

Sie propagieren eine internationale Charta zur Beendigung von Bürgerkriegen und zur Umkehr von Militärcoups. Ist das nicht eine Überforderung der Länder, die dafür Streitkräfte bereitstellen könnten?

Leider schützt Demokratie nicht vor Staatsstreichen. Da sind demokratische Regierungen in armen Gesellschaften genauso in Gefahr wie Autokraten. Deshalb schlage ich eine Charta vor, in der sich Regierungen freiwillig zu bestimmten elementaren demokratischen Standards verpflichten, etwa freie und faire Wahlen, Pressefreiheit und unabhängige Justiz. Im Gegenzug sagt die internationale Gemeinschaft ihnen zu, sie im Fall eines Staatsstreichs wieder an die Regierung zu bringen. Dazu sind wir militärisch gut in der Lage. Wenn es eine solche glaubwürdige Charta gäbe, kämen es wahrscheinlich nie zum Ernstfall, weil Militärcoups schlicht ausbleiben würden.

Sie denken also nicht an das UN-Konzept von R2P, der „Responsibility to Protect“, in Krisen aus humanitären Gründen militärisch einzugreifen?

Mein Vorschlag ist viel weniger interventionistisch als R2P. Nach R2P hat die internationale Gemeinschaft das Recht, die Bürger eines Landes vor ihrer eigenen Regierung zu schützen. Das ist eine sehr starke Einmischung. Ich sage, dass unsere Armeen demokratisch gewählte Regierungen vor ihren eigenen Armeen schützen sollen. Das scheint mir recht moderat.

Für Ihre Vorschläge müssten die führenden Industrienationen eng kooperieren. Handeln die G8-Regierungen ausreichend kohärent?

Nein, das haben sie nie, und sie werden es wohl auch nie tun. Aber im Fall fragiler Staaten wäre es möglich, dass drei oder vier Schwergewichte erfolgreich agieren. Die Kosten des Versagens sind unglaublich hoch.

An welche Schwergewichte denken Sie?

Deutschland gehört dazu, weil es eine sehr lange Tradition technischer Zusammenarbeit hat. Es ist ein wichtiger Akteur, immerhin das größte Land in Europa. Ein anderes ist Britannien. Verteidigungs-, Außen- und Entwicklungsministerium arbeiten an gemeinsamem Vorgehen in fragilen Staaten. Und in den nächsten drei Jahren zumindest dürfen Sie eine Führungsrolle des Foreign Office erwarten. Auch Frankreich ist sich der Probleme sehr bewusst. Denken Sie nur an die Situation, vor der es derzeit im Tschad steht. Und auch die Amerikaner können eine hilfreiche Rolle spielen …

Aber sind die USA nicht Teil des Problems? Wa­shington scheint militärische Intervention und schnelle Lösungen zu bevorzugen.

(Lacht). Aber sie können auch Teil der Lösung sein. Sie sind ein wichtiger Player und liegen seit geraumer Zeit mit ihrer Politik offensichtlich falsch. Ich sehe wirklich die Chance, dass sie beginnen, etwas richtig zu machen. Und wenn die erwähnten G8-Staaten kohärent zusammenarbeiten würden, wäre das ein enormer Schritt nach vorn.

Aber das wäre – sarkastisch ausgedrückt – eine „Koalition der Willigen“, kein Resultat von Geberharmonisierung in der EU oder der OECD.

Seien wir realistisch. Es gibt nicht viele Länder, die die Dringlichkeit der Verbindung von Sicherheit und Entwicklung sehen. Wenn wir eine umfassendere Koordination erreichen könnten, wäre das großartig; aber es scheint sehr schwierig zu sein. Wir sollten alles nutzen, was funktioniert.

Die Fragen stellte Hans Dembowski.

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