Finanzkrise
Rezession trifft die Ärmsten der Welt
Wohlhabende Länder stecken Unmengen von Geldern in ihre eigenen Rettungsfonds, aber lassen die ärmsten Opfer der Krise im Stich. Sie riskieren damit, geschwächte Regionen weiter zu destabilisieren. Die Zahl der Armen könnte deshalb allein in diesem Jahr um weitere 53 Millionen steigen, schätzt die Weltbank. Nach dem Lebensmittel- und Ölpreisschock des letzten Jahres werden durch die derzeitige Rezession noch mehr Menschen dazu gezwungen, ihr mageres Eigentum zu verkaufen und ihre Kinder von der Schule zu nehmen, damit sie arbeiten können. Die Krise hinterlässt Millionen Unterernährte und medizinisch Nichtversorgte.
„Als die Krise anfing, waren die Menschen in den Entwicklungsländern – insbesondere in Afrika – unschuldige Zuschauer“, sagte die Geschäftsführerin der Weltbank, Ngozi Okonjo-Iweala, im März. Jetzt müssen diese Menschen „die harten Konsequenzen tragen“. Die Weltbank schätzt, dass die Geber mit ihren Verpflichtungen zur Erhöhung der Entwicklungshilfe aus dem Jahr 2005 in Gleneagles um 39 Milliarden US-Dollar hinterherhinken.
Auch private Gläubiger wenden sich nach Angaben der Weltbank von den Entwicklungsländern ab. Ein Finanzierungsdefizit, das die öffentlichen und privaten Schulden sowie die Handelsbilanzdefizite von 129 Ländern einbezieht, wird in diesem Jahr auf 270 Milliarden bis 700 Milliarden US-Dollar geschätzt. Nur ein Viertel der am stärksten gefährdeten Länder der Welt haben die Ressourcen, die Armut durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Sicherheitsnetze zu bekämpfen.
Die Zuflüsse von Privatkapital an aufstrebenden Märkten haben sich im Jahr 2008 gegenüber 467 Milliarden US-Dollar im Jahr 2007 halbiert, heißt es im Washingtoner „Institute for International Finance“, einer Denkfabrik der Industrie. Für das Jahr 2009 wird ein Rückgang auf etwa 165 Milliarden US-Dollar erwartet.
Die Weltbank geht davon aus, dass der diesjährige Abschwung der Weltwirtschaft der schlimmste seit 80 Jahren sein wird, und dass Länder, die in den vergangenen Jahren am schnellsten gewachsen sind, davon am härtesten betroffen sein werden. „Während manche Länder in Südasien von den negativen Folgen der Finanzkrise relativ wenig gespürt haben, leben in der Region mehr als die Hälfte der 900 Millionen Asiaten, die nur 1,25 US-Dollar am Tag verdienen“, sagte der Präsident der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB), Haruhiko Kuroda. „Daher ist jeder Rückgang des Wirtschaftswachstums ein ernster Grund zur Sorge.“
Neben der Senkung der Zinsraten und der schnellen Bündelung wirtschaftlicher Anreiz-Pakete sollten die Länder auch Devisentauschgeschäfte und zum Beispiel besondere Sparpapiere für ausländische Arbeiter in Erwägung ziehen, damit diese einen Anreiz haben, Geld nach Hause zu schicken, heißt es bei der ADB. Eine längerfristige wirtschaftliche Diversifizierung, die Verringerung der Defizite, Investitionen in die Infrastruktur und die Förderung des regionalen Handels werden dazu beitragen, die Folgen einer geringeren Nachfrage aus mehr entwickelten Ländern zu dämpfen.
Laut Weltbank haben mehrere Länder Anreizpläne umgesetzt oder in Aussicht gestellt. Südkorea, Malaysia und Thailand haben Pakete für 2009 vorgeschlagen, China hat bereits ein Konjunkturprogramm von 586 Mrd. US-Dollar aufgesetzt. Chinas Exporte sind im Vergleich zum letzten Jahr um 25 Prozent gesunken, und rund 20 Millionen Menschen haben ihre Arbeit verloren, gab die Regierung im März bekannt.
Südasien ist besonders von der Rezession in der Golfregion betroffen, wo Wanderarbeiter ihre Jobs verlieren und daher weniger Geld nach Hause schicken. Ein ähnliches Phänomen ist in Osteuropa und Zentralasien zu beobachten, wo ebenfalls viele Länder dringend auf die Geldsendungen angewiesen sind. Tadschikistan und Moldawien etwa haben mit 45 beziehungsweise 38 Prozent den weltweit höchsten Geldtransfer-Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP).
Länder, die von einer einzigen Geldquelle abhängig sind, leiden ebenfalls. Dies gilt insbesondere für Niedriglohnländer im südlichen Afrika. Der Absturz der Rohstoffpreise hat dort die Staatseinnahmen einbrechen lassen. Die Demokratische Republik Kongo, Äquatorialguinea, Gabun und Nigeria zum Beispiel erzielen nach Angaben der Weltbank mit dem Verkauf von Erdöl mehr als die Hälfte ihrer gesamten Staatseinnahmen. Die sinkenden Preise von anderen Rohstoffen haben vor allem die Elfenbeinküste und Guinea getroffen.
Nach Angaben der Afrikanischen Entwicklungsbank (AfDB) sind die „anfänglichen Auswirkungen der Finanzkrise in Afrika erst spät spürbar geworden“.
Der Zusammenbruch von Unternehmen und Minen sowie der Zerstörung von Arbeitsplätzen, Einnahmen und Lebensgrundlagen macht die Folgen inzwischen aber deutlich sichtbar. Die AfDB spricht von einer „ausgemachten Entwicklungskrise“ und prognostiziert erstmals seit zehn Jahren „null Prozent Wachstum“.
Experten meinen, dass die entwickelten Länder 0,7 Prozent ihrer Konjunkturpakete dazu nutzen sollten, ärmeren Ländern beizustehen und ihre bestehenden Verpflichtungen gegenüber Entwicklungsländern einzuhalten. Laut ADB sind solche Maßnahmen unbedingt erforderlich, um die jüngsten Investitionsniveaus zu halten – insbesondere bei der Infrastruktur. Andernfalls wäre es schwierig, die Wachstumsgrundlagen der vergangenen Jahre aufrecht zu erhalten.
Währenddessen erfährt Lateinamerika nach fünf Jahren nachhaltigen Wachstums von durchschnittlich 5,3 Prozent einen Abschwung in der industriellen Produktion. Brasilien gab im Dezember 2008, als die Exporte laut Weltbank um 29 Prozent fielen, sein erstes Handelsbilanzdefizit in acht Jahren bekannt.
Ellen Thalman