Marginalisierung

Wo die Benachteiligten in Brasilien leben

Favelas waren ursprünglich informelle Siedlungen, haben sich aber über die Jahrzehnte zu einer besonderen Art von benachteiligten Stadtteilen entwickelt. Die Lage der Bewohner ist deutlich besser als in den Elendsvierteln der ärmsten Entwicklungsländer – sie sind aber schlechtergestellt als andere Brasilianer und in verschiedener Hinsicht ausgegrenzt.
Zwei Drittel der Bewohner wollen aus ihren Favelas nicht wegziehen. Nigel Dickinson/Lineair Zwei Drittel der Bewohner wollen aus ihren Favelas nicht wegziehen.

2010 lebten laut Volkszählungsdaten etwa sechs Prozent der brasilianischen Bevölkerung in einer der 6300 Favelas. Brasiliens Institut für Geographie und Statistiken (IBGE) definiert „Favela“ als eine Gruppe von mindestens 51 Haushalten auf eng und unsystematisch bebautem Land, das anderen gehört und nicht an wesentliche öffentliche Infrastruktur angeschlossen ist. In Rio de Janeiro gibt es rund 1000 solcher vernachlässigter Viertel – und Rocinha, das größte, hat rund 100 000 Einwohner.

Die Favelas sind nicht alle gleich. Sie verbindet, dass ihre Entwicklung ohne systematische Planung und mit viel Improvisation verlief. Typisch sind kleine, niedrige Gebäude. Über die Jahrzehnte machten provisorische Hütten Häuschen aus Ziegelsteinen und Beton Platz. Graduell wurde auch die Infrastruktur verbessert. Die Initiative ging mal von den Bewohnern und mal von einer Behörde aus. Der Staat hat allerdings die Favelas immer vernachlässigt und nimmt ihre Lebensumstände noch immer nicht voll zur Kenntnis. Zivilgesellschaftliche und nachbarschaftliche Initiativen sind sehr wichtig, und manche mischen sich auch in die Politik ein oder betreiben Öffentlichkeitsarbeit.

Manche Favelafamilien haben nur ein Zimmer, aber Wohneinheiten mit drei Zimmern sind nicht mehr ungewöhnlich. Um mehr Platz zu schaffen, bauen die Leute oft noch ein Stockwerk auf ihr Häuschen drauf – beispielsweise dann, wenn ein Kind heiratet. Gebäude mit mehr als einem Stockwerk haben im Erdgeschoss oft einen Laden oder eine Werkstatt.

Die Gassen sind eng und voller Leute. Laut IBGE-Daten sind zwar 56 Prozent der Favelahaushalte an die Kanalisation angeschlossen, aber ein Prozent verfügt über keine Toilette. Etwa 88 Prozent hatten 2010 eine Wasserleitung. Die Stromversorgung ist weniger zuverlässig als in anderen Stadtteilen, und manche Haushalte haben keinen Anschluss.

In Hinsicht auf Kühlschrank- und Fernseherbesitz unterschieden sich Favelahaushalte 2010 nicht vom übrigen Brasilien. Waschmaschinen hatten aber nur 41 Prozent. Der Vergleichswert anderswo war 61 Prozent. Computer hatten 28 Prozent (56 Prozent). Diese Quoten sind seither sicherlich gestiegen. Das unabhängige Institut Data Favela schätzt, dass 78 Prozent der Altersgruppe 16 bis 29 schon 2013 regelmäßig das Internet nutzten.

Der informelle Sektor ist stark ausgeprägt, es gibt in Favelas aber auch offiziell registrierte Firmen. Die Bewohner gehören nicht nur zur Unterschicht, sondern auch zur unteren Mittelschicht. Der Ruf der Gesetzlosigkeit und Gewalt ist übertrieben, aber nicht völlig unbegründet (siehe Kasten).


„Afrikanische Viertel“

Einige Favelas sind recht alt. Die ersten entstanden Ende des 19. Jahrhunderts und wurden von ehemaligen Soldaten und Sklaven errichtet, die in Großstädten ein Heim brauchten. Sie bauten gern an steilen Hängen, weil diese noch nicht genutzt wurden und sie niemand als Eigentum beanspruchte. Anfangs wurden einige Favelas „Bairros Africanos“ (afrikanische Viertel) genannt. Rassismus spielte also von Anfang an eine Rolle.

Auch heute leben People of Colour mit größerer Wahrscheinlichkeit in einer Favela als Menschen rein europäischer Abstammung. 2010 waren laut Volkszählung 45 Prozent der brasilianischen Bevölkerung, aber nicht einmal ein Drittel der Favelabewohner weiß. In diesen Stadtteilen waren 13 Prozent schwarz und 55 Prozent gemischter Abstammung. Auch indigene Brasilianer werden ausgegrenzt, sie leben aber meist nicht in den Städten.

Laut Data Favela sind 70 Prozent der Frauen in Favelas Mütter, und die meisten bekamen ihr erstes Kind vor ihrem 20. Geburtstag. Die Kinderzahl schwankt, es ist aber nicht ungewöhnlich, fünf oder sechs Kinder zu haben. 44 Prozent der Frauen führen einen Haushalt ohne Mann. Data-Favela-Forschung hat auch ergeben, dass 72 Prozent der Favela-Bewohner keine Ersparnisse haben und ihren Lebensstandard nur eine Woche lang aufrechterhalten können, wenn sie ihr Einkommen verlieren. Brasiliens soziale Ungleichheit ist immens: Das Land hat nämlich auch mehr Milliardäre als Frankreich, wie die Zeitschrift Forbes berichtete.

Ein großer Teil der Favelabevölkerung hängt vom informellen Sektor ab. Laut IGBE arbeiten 27,8 Prozent der Menschen hier ohne Vertrag. Der Vergleichswert anderenorts ist 20,5 Prozent. Favelafamilien sind tendenziell groß und versorgen viele Abhängige, also ist davon auszugehen, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung von informeller Wirtschaftstätigkeit lebt.

Rassismus prägt auch diesen Sektor. Schwarze und braune Menschen verdienen tendenziell weniger als weiße, selbst wenn sie dieselbe Arbeit verrichten. Meist haben sie die schlechtesten Jobs. Das ist allerdings auch in der regulären Wirtschaft so, wo IBGE- Zahlen zufolge weiße Mitarbeiter 2018 im Schnitt 42 Prozent mehr als People of Colour verdienten.

Würden alle Favelas zusammen einen brasilianischen Bundesstaat bilden, so hätte dieser die fünfthöchste Bevölkerungszahl. Sein Pro-Kopf-Einkommen entspräche aber nur 100 Euro pro Monat oder der Hälfte des offiziellen Mindestlohns, wie Umfragen der Institute Data Favela und Locomotiva ergeben haben. Seine Wirtschaftsleistung wäre trotzdem größer als die Boliviens.

Covid-19 hat die Favelas wenig überraschenderweise besonders hart getroffen – sowohl gesundheitlich als auch ökonomisch. Hohe Bevölkerungsdichte ermöglicht schnelle Virusausbreitung, und wer ohne die soziale Sicherung, die eine Festanstellung bringt, auskommen muss, stürzt schneller in die Armut ab. Im Dezember stiegen die Infektionszahlen wieder schnell.

Das Leben in Favelas ist hart. Dennoch wollen die meisten Menschen nicht weg. Bei einer Umfrage in 63 Favelas von Data Popular bezeichneten 94 Prozent sich selbst als glücklich und 66 Prozent sagten, sie wollten nicht woanders hinziehen. Das liegt am starken Zusammenhalt der örtlichen Gemeinschaften, wo Menschen von Angehörigen und Freunden umgeben sind. Das soziale Netzwerk bietet Schutz, Hilfe in Notlagen sowie freudvolle Gemeinschaftsaktivitäten wie Samba und Karneval.

Karen Cândido macht Basisberichterstattung für die Medienplattform Voz das Communidades (Stimme der Gemeinschaften). Ihrem Urteil nach „kämpfen die Menschen in Favelas für ihre Rechte und sind dort glücklich“. Es gebe nicht nur Probleme, sondern auch die Entschlossenheit voranzukommen. „Wir sind stolz auf Fortschritte“, sagt sie, „und wer Hilfe braucht, bekommt sie von Nachbarn.“


Thuany Rodrigues ist Journalistin und lebt in Rio de Janeiro.
thuanyrodriigues@gmail.com