Kommentar
Europa kneift
[ Von Claudia Isabel Rittel ]
Viele Italiener, die im 19. Jahrhundert nach Argentinien auswanderten, brachten kein Geld mit. Und die meisten waren auch nicht hoch qualifiziert. Die Bauern, Landarbeiter und Handwerker vertrauten auf ihre Arbeitskraft. Was damals selbstverständlich war, wird in Italien bald Straftat sein. Dass nämlich, wer daheim keine Chance mehr sieht, sich eine neue Heimat sucht.
Diese Politik von Regierungschef Silvio Berlusconi ist vollkommen indiskutabel. Entsprechend scharf fiel die Kritik von Flüchtlingsorganisationen und den Vereinten Nationen an dem „Sicherheitsgesetz“ aus, in dem die neuen Regeln stehen. Zudem hat Italien im März begonnen, Flüchtlinge schon auf See aufzugreifen und nach Libyen zu bringen. UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres nennt das illegal, beteiligte Beamte sprechen beschämt von „inhumanen Maßnahmen“. Der Europarat, der Vatikan und zivilgesellschaftliche Organisationen protestieren. Berlusconi selbst schreckt aber nicht davor zurück, Sammellager in Italien mit Konzentrationslagern zu vergleichen, denen die Abschiebung nach Libyen allemal vorzuziehen sei.
Und die EU? Sie schweigt. Zwar hat das Europaparlament gerade einigen neuen Asylregeln zugestimmt – aber für Asylanträge sind immer noch allein die EU-Mitgliedstaaten zuständig, über die Nicht-Europäer einreisen. Es wird darüber diskutiert, wie den Ländern, wo besonders viele Anträge gestellt werden, geholfen werden kann. Getan wird aber praktisch nichts.
Einwanderer, auch uneingeladene, kommen aber ständig in Europa an. Maßnahmen tun also not. Das sehen vor allem die Einreiseländer so. So gesehen, ist die überzogene Politik Italiens eine Folge des Nichthandelns der EU. Der Staatenbund schiebt die Verantwortung auf die Länder mit Außengrenzen ab. Entsprechend wirkt die Haltung der Europäischen Kommission zu Italiens Handeln wie eine stillschweigende Anerkennung. Sie scheint geradezu dankbar, dass ihr römisches Enfant Terrible sich einer Sache annimmt, um die sie sich selbst nur ungern kümmert.
Die EU ist bezüglich der Einwanderung genauso doppelzüngig wie Italien. Vor allem konservative Parteien machen in Wahlkämpfen – wie jetzt vor der Wahl des Europäischen Parlaments – mit Antimigrations-Rhetorik Stimmung. Aber harte Sprüche gehen mit weichem Handeln einher. Die Anwesenheit von Arbeitskräften ohne Papiere wird weitgehend geduldet, denn diese Leute werden gebraucht. Nach Daten des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI) ist die Beschäftigungsrate von Einwanderern gerade in Italien „extrem hoch“ – nicht zuletzt dank der blühenden Schattenwirtschaft.
So erklären sich auch die vielen „Regularisierungen“: In den vergangenen 20 Jahren hat Italien in Amnestie-Programmen illegale Einwanderer fünfmal nachträglich legalisiert. Das HWWI schätzt, dass mehr als die Hälfte der heute legal in Italien lebenden Einwanderer so ihren Status erhalten haben. Berlusconis persönliches Rechtsverständnis ist ähnlich flexibel. Er hat sein Kabinett dafür sorgen lassen, dass diverse Strafverfahren gegen ihn nie abgeschlossen werden konnten.
Italien und Europa müssen sich dem Thema Migration ernsthaft stellen. Die alternden Gesellschaften zwischen Nordsee und Mittelmeer brauchen Zuwanderer. Gerade weil das Thema vielschichtig und emotionsbeladen ist, ist eine europäische Debatte nötig.
Die italienischen Einwanderer haben Argentinien im 19. Jahrhundert vorangebracht, ihr Einfluss ist bis heute zu spüren. Ähnlich erweisen sich Neuankömmlinge auch in Europa immer wieder als wertvoll. Mit ihrem Arbeitswillen und ihrer Risikobereitschaft tragen sie dazu bei, Wohlstand und zusätzliche Jobs zu schaffen. Profitieren können alle – die Einwanderer, ihre Familien in der alten Heimat und die Gesellschaft ihrer neuen Heimat. Europas Politiker müssten den Wandel gestalten, aber bisher bedienen sie nur die Angst vor Veränderung.