Kommentar
Atomabkommen eröffnet Chancen
Der Iran verfügt nicht über Atomwaffen. Er würde noch mehrere Jahre benötigen, um sich nuklear zu bewaffnen, und er bestreitet, solche Waffen überhaupt anzustreben. Teheran verweist immer wieder auf eine so genannte Fatwa, ein islamisches Rechtsgutachten, Ayatollah Khameneis, nach dem die Produktion, der Besitz und der Einsatz von Atomwaffen nicht mit dem Islam zu vereinbaren seien.
Gründe für eine solche Aufrüstung hätte der Iran aber zumindest während der Präsidentschaft George Bushs in den USA und nach dem gewaltsamen Sturz Saddam Husseins im Irak durchaus gehabt. Damals phantasierten in den USA neokonservative Kreise mit guten Kontakten zur Regierung öffentlich darüber, nach Afghanistan und dem Irak auch in Syrien und/oder dem Iran einen Regimewechsel zu erzwingen. US-Truppen standen in Afghanistan und im Irak, Saudi-Arabien und die anderen Staaten des Golfkooperationsrates waren stramm antiiranisch und forderten die USA zu einer noch härteren Linie auf, und im Persischen Golf standen atomar bewaffnete Kriegsschiffe und US-Flugzeugträger.
Der gewaltsame Sturz Saddam Husseins hatte die Aussichtslosigkeit einer konventionellen Verteidigung gegen das US-Militär demonstriert. Der Aufbau einer atomaren Abschreckungsfähigkeit gegen eine solche massive Bedrohung wäre zwar illegal, aber realpolitisch verständlich gewesen.
Inzwischen hat sich die Lage für den Iran sowohl innen- als auch außenpolitisch geändert. Präsident ist nun nicht mehr der rechtsradikale Extremist Mahmud Ahmadinedschad, sondern der liberale Hassan Rohani, der die Verbesserung der Beziehungen zu Europa und den USA als eine seiner Schlüsselaufgaben betrachtet. Irans „Führer“ Ayatollah Khamenei und die reaktionären Kräfte im Land bremsen zwar erkennbar. Doch der überwältigende Teil der Bevölkerung unterstützt den Kurs der Entspannung.
Unter Präsident Barack Obama waren Überlegungen zum Sturz der iranischen Regierung nicht mehr Teil der US-Politik. Die US-Truppen sind aus dem Irak abgezogen, und die Nato zieht sich aus Afghanistan zurück. Während die westliche Position dort geschwächt ist, hat der Iran inzwischen durchaus Einfluss in Afghanistan, etwa aufgrund seines wirtschaftlichen Engagements in der Region um Herat. Im Irak ist er zur wichtigsten ausländischen Macht avanciert und in Syrien – in Kooperation mit der libanesischen Hisbollah – zu einem Einflussfaktor, ohne den das Land nicht zu stabilisieren ist. Auf der Arabischen Halbinsel bietet sich zusätzlich die Chance, Saudi-Arabien von Süden her unter Druck zu setzen, indem Teheran die schiitischen Huthi-Aufständischen im Jemen unterstützt.
Insgesamt hat sich die regionale Stellung des Irans im vergangenen Jahrzehnt so dramatisch verbessert, dass ein erhöhtes Abschreckungspotenzial weitaus weniger notwendig erscheint. Ein Atomvertrag würde den Iran durch die Aufhebung der Sanktionen wirtschaftlich stärken. Der Iran würde auch politisch aus seiner jahrzehntelangen Isolation ausbrechen. Er könnte zu einem Schlüsselpartner zur Stabilisierung Afghanistans, des Iraks und Syriens werden.
Tatsächlich würde die Lösung der Atomfrage für den Iran die Option eröffnen, zur dominierenden Regionalmacht am Persischen Golf zu werden. Dem aber wollen weder Israel noch Saudi-Arabien tatenlos zusehen. Während die israelische Regierung sich intensiv bemüht, durch Lobbying und Kooperation mit rechten Kräften im US-Kongress den Atomvertrag zu hintertreiben, ist Saudi-Arabien engagiert dabei, alle Gegner des Irans in der Region politisch und materiell zu unterstützen: salafistische Gruppen, aber auch die säkulare Regierung in Ägypten, das Königshaus Bahrains und die entmachtete Regierung des Jemens.
Das Atomabkommen eröffnet beträchtliche Chancen für den Nahen und Mittleren Osten und die internationale Politik. Aber die innenpolitischen und regionalen Gegenkräfte dürfen nicht unterschätzt werden. Es ist durchaus noch möglich, dass sie einen Vertrag verhindern.
Jochen Hippler ist Politikwissenschaftler und lehrt an der Universität Duisburg-Essen.
hippler@o2online.de