Sommer-Special

Ein Kampf um die Seele des Islams

Noch hat der gewaltsame islamistische Fundamentalismus den Senegal verschont, aber er könnte dort genauso Einzug halten wie in Mali, Burkina Faso und Nigeria. Wie es dazu kommen kann, zeigt ein faszinierender neuer Spielfilm aus dem Senegal. Dieser Beitrag ist der erste unseres diesjährigen Sommer-Spezialprogramms mit Rezensionen künstlerischer Werke mit entwicklungspolitischer Relevanz.
Der Regisseur Mamadou Dia im Filmmuseum in Frankfurt am Main. DFF Der Regisseur Mamadou Dia im Filmmuseum in Frankfurt am Main.

Die Fundamentalisten kamen lautlos: Sie brachten Bargeld und Geschenke, gewannen langsam die Gunst der Bürger und verschafften sich Autorität. Dann übernahmen sie die Kontrolle. Sie unterwarfen ahnungslose Menschen, die jahrhundertelang eine sanfte Form des Islams praktiziert hatten, einer islamistischen Gewaltherrschaft.

Das ist die Haupthandlung eines fesselnden neuen Films des jungen senegalesischen Filmemachers Mamadou Dia. Der Regisseur präsentierte seinen Film „Baamum Nafi“ („Nafis Vater“) im Februar im Filmmuseum in Frankfurt und diskutierte mit dem Publikum.

Auf einer Ebene ist der Film ein Familiendrama um zwei ungleiche Brüder. Der eine ist als „der Tierno“ bekannt und führt als langjähriger Imam der Stadt die Gläubigen mit sanfter Hand. Während er sein ganzes Leben in der Stadt verbracht hat, konnte sein älterer Bruder Ousmane mit der Unterstützung des Vaters ins Ausland reisen. Dort wurde Ousmane zum Anhänger eines radikalen Fundamentalisten, der nur „der Scheich“ genannt wird. Im Auftrag des Scheichs kehrt er mit Geld und Geschenken in seine Heimatstadt zurück. Unterstützt von einer Schlägerbande erkauft er sich in der Gemeinde seines Bruders den Einfluss des brutalen Dschihadisten.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Tochter des Tierno, Nafi, und Ousmanes Sohn Tokara heiraten wollen. Die beiden Teenager sind trotz ihrer Herkunft aus traditionalistischen Familien sehr modern: Die hübsche und intelligente Nafi möchte in Dakar Medizin studieren und Ärztin werden, der sanfte und talentierte Tokara möchte professioneller Tänzer werden.

Die beiden Väter merken nichts vom frischen Wind, der in ihren Familien weht, so sehr sind sie mit sich selbst beschäftigt: mit Tiernos Verbitterung, weil er nicht die gleichen Chancen erhielt wie Ousmane, mit ihren Meinungsverschiedenheiten dar­über, wie die Hochzeit ihrer Kinder gefeiert werden soll, und mit ihrem Kampf um die Kontrolle der Stadt und über die „korrekte“ Ausübung des Islams.

Der Tierno ist eindeutig der sympathischere der beiden Brüder. Aber die Stadtbewohner, geblendet von Geldgeschenken und von Auseinandersetzungen über den „wahren Islam“, die die Autorität des Tiernos untergraben sollen, bewegen sich allmählich in Ousmanes Lager.

Dann zeigt sich die dunkle Seite des islamistischen Fundamentalismus. Von den Frauen wird verlangt, sich von Kopf bis Fuß mit dem Tschador zu verhüllen. Es gibt Zwangsverheiratungen in einer Massenzeremonie. Mädchen, die seilspringen, laufen vor religiösen Aufsehern weg, denn alles, was Spaß macht, verstößt gegen die neuen Regeln. Unverheiratete Paare, die in der Öffentlichkeit Händchen halten, gelten als Problem.

Und es kommt noch schlimmer: Ein kleiner Dieb wird hart bestraft. Man sieht ein Schwert herabfallen und kann sich die abgetrennte Hand bildlich vorstellen. Eine tolerante Stadt verwandelt sich in einen Ort der Angst – kontrolliert von korrupten, machtbesessenen Herrschern, die die Religion zur Durchsetzung einer Schreckensherrschaft missbrauchen.

Die Stadtbewohner stehen der neuen Interpretation des Islams ambivalent gegenüber. Sie wurden davon überrumpelt. Die beiden Brüder, die im Film für diese Ambivalenz stehen, debattieren darüber, was Islam eigentlich bedeutet. Ist er eine Religion der Toleranz und Nächstenliebe, wie es der Tierno versteht? Oder ist er ein strenges Regelsystem, das auf einer strikten Auslegung und strafenden Anwendung der Gebote des Koran beruht?

Der Film ist letztlich eine Tragödie. Um heiraten zu können, umgehen Nafi und Tokara mit einem Trick die islamistischen Regeln. Dieser Schachzug endet schlimm. Aber gegen Ende geht Nafi an die Universität, und viele Stadtbewohner beginnen, sich gegen die Schreckensherrschaft zu wenden.

Mamadou Dia drehte den Film in seiner Heimatstadt Matam im Nordosten des Senegals, direkt an der Grenze zu Mauretanien. Nur die beiden Brüder werden von professionellen Schauspielern verkörpert, die anderen Darsteller sind Einwohner von Matam.

Durch die Mitwirkung vieler Laien hat der Film einen dokumentarischen Charakter. Er zeigt den Alltag in einer Kleinstadt, während fiktionale Elemente eingeflochten werden, um zu zeigen, wie der gewalttätige Islamismus eine friedliche Stadt infiltrieren kann. Auf diese Weise konnte Dia – der zuvor als Journalist in ganz Afrika arbeitete – seinen ersten Spielfilm mit einem kleinen Budget produzieren.

In Frankfurt erläuterte Dia seine Beweggründe, diesen Film zu machen: „2014 ging ich nach New York, um Film zu studieren. Jedes Mal, wenn ich erzählte, ich sei Muslim, hatten die Leute eine bestimmte Vorstellung davon, was das ist, und ich musste erklären: ‚Nein, der Senegal ist anders, so leben wir den Islam nicht‘.“ Im säkularen Senegal ist gewalttätiger Fundamentalismus verboten. Der Islam wird in der Praxis häufig mit vorislamischen Traditionen vermischt.

Dia betonte, dass der Fundamentalismus eine Interpretation des Islams ist, die nicht unbedingt mit Gewalt einhergeht. „Es gibt eine Milliarde Muslime auf der Welt. Es gibt viele Arten von Muslimen. Im Senegal nennen wir Muslime, die Schweinefleisch essen und Alkohol trinken ‚linke Muslime‘, und es gibt noch viele andere Typen. Das eine Prozent der Muslime, die herumlaufen und Menschen töten, die sogenannten Dschihadisten, töten mehr Muslime als jede andere Religion.“

Mit Blick auf andere westafrikanische Länder sagte Dia: „Der Senegal ist nicht sicherer oder gefestigter als Mali oder Burkina Faso. Wir alle wollen an friedlichen Orten leben. Ich wollte den Menschen im Senegal sagen, dass sie nicht erst darüber sprechen sollen, wenn der Extremismus zuschlägt. Deshalb habe ich den Film gemacht: Ich wollte die Debatte in Gang bringen.“


Film
Baamum Nafi (Vater von Nafi), 2019, Senegal, Regisseur: Mamadou Dia