Handelsstrukturen
Süd-Süd-Beziehungen prägen Indiens Außenhandel
Seit der Unabhängigkeit 1947 bis in die frühen 1990er war Indiens Wirtschaft sozialistischer Politik entsprechend vom Außenhandel abgeschottet. In den 1980er Jahren begann Indien seine Wirtschaft zu liberalisieren. Der Prozess beschleunigte sich in den frühen 1990er Jahren. Wegen einer Zahlungsbilanzkrise musste sich die indische Regierung Geld vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und von der Weltbank leihen. Strukturanpassung war die Bedingung. Für den damaligen Finanzminister Manmohan Singh bot das die Gelegenheit, seine liberalen Wirtschaftsreformen zu konsolidieren (siehe Interview mit Salman Anees Soz im Schwerpunkt E+Z/D+C e-Paper 2018/08).
Inzwischen hat sich die ehemalige Planwirtschaft weitgehend zur liberalen Marktwirtschaft entwickelt. Das gilt vor allem für den Außenhandel. Indien hat 1995 die Welthandelsorganisation (WTO) mitbegründet und hatte zuvor auch das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT), aus dem sie hervorging, unterschrieben. Indien ist klar für eine multilaterale Handelsordnung.
Seit den 1990er Jahren hat sich auch der indische Außenhandel wesentlich verändert. Vom Finanzjahr 1990/91 bis 2017/18 stieg der Gesamtwert der indischen Warenausfuhren um das 16-fache: von 18 Milliarden US-Dollar auf 300 Milliarden US-Dollar. Im gleichen Zeitraum stiegen die Einfuhren um das 20-fache: von 24 Milliarden US-Dollar auf mehr als 460 Milliarden US-Dollar.
Indien exportiert heute weniger Güter aus traditionellen Branchen wie der Textil- und Landwirtschaft. Dafür ist der Gesamtanteil technischer Produkte am Export von 12 Prozent auf 28 Prozent gestiegen. Außerdem ist Indien dank umfangreicher Pharmaexporte zur Apotheke der Welt geworden (siehe Deepak Sapra im Schwerpunkt E+Z/D+C e-Paper 2016/02) und dient zudem als globales Backoffice für Unternehmen in Industrieländern, die ihre Geschäftsprozesse und IT-Dienstleistungen zunehmend auslagern. Das alles wirkt sich positiv auf die Handelsbilanz aus. Nicht zu vernachlässigen sind auch die Überweisungen von indischen Migranten aus dem Ausland. Die tauchen allerdings nicht in der Statistik des Güterhandels auf.
Wenig Wandel gab es bei der Art der Importe. Indiens größte Einfuhrware ist nach wie vor Öl. Abhängig vom Preis macht es etwa 20 bis 30 Prozent der jährlichen Importausgaben aus.
Allerdings handelt Indien heute mit anderen Ländern als früher. In den vergangenen neun Wirtschaftsjahren importierte Indien etwa 30 Prozent seiner Güter und Dienstleistungen aus zwei Ländergruppen: Den Industrieländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und den Schwellenländern der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC).
Vor 30 Jahren importierte Indien fast 60 Prozent seiner Waren und Dienstleistungen aus OECD-Ländern und nur 15 Prozent aus den Ländern der OPEC. Etwa acht Prozent der Importe kamen aus Osteuropa und 18 Prozent aus Entwicklungsländern. Importe aus Osteuropa liegen heute nur noch bei 2 Prozent. Ein Grund dafür ist sicher der Zerfall der Sowjetunion. Dagegen stiegen die Importe aus Entwicklungsländern auf 37 Prozent. Dazu zählen Rohstoffe aus den am wenigsten entwickelten Ländern sowie Industriegüter aus China und anderen aufstrebenden Märkten.
Ähnliche Umwälzungen gab es im Exportgeschäft. Der OECD-Anteil sank von 57 Prozent auf 36 Prozent, und die Exporte in OPEC-Länder stiegen von sechs auf 19 Prozent. Während Entwicklungsländer einst 16 Prozent indischer Exportgüter kauften, stieg ihr Anteil auf 42 Prozent. Osteuropäische Länder sind auch hier Schlusslicht mit einem Rückgang von fast 18 Prozent auf nur ein Prozent. Indiens Außenhandel hat sich also deutlich auf Süd-Süd-Kooperationen verlagert.
Stärken und Schwächen
Zweifellos prägt der internationale Handel Indiens Wirtschaft. Die vergangenen zehn Jahre zeigen aber auch, dass Indiens Bruttoinlandsprodukt schneller gewachsen ist als der Außenhandel. Indiens gesamter Handel erreichte zwar im Wirtschaftsjahr 2012/13 mit 46 Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt seinen Höhepunkt. Der schrumpfte jedoch bis 2017/18 wieder auf 30 Prozent. Das lässt sich so erklären: Die Binnenwirtschaft Indiens blieb stark, während die Weltwirtschaft geschwächt war.
Weder die Finanzkrise 2008 traf Indiens Wirtschaft hart noch das nachgelassene Wirtschaftswachstum der Schwellenländer in den vergangenen Jahren.
Einen genaueren Blick verdienen die offiziellen Statistiken. Sie lassen den Außenhandel wichtiger erscheinen, als er ist. Aber die Mehrheit der indischen Bevölkerung sind Kleinbauern, viele davon sind Selbstversorger.
Indiens Außenhandel konnte die hohe Armutsrate im Land bislang nicht senken. Etwa 90 Prozent der Inder verdienen ihren Lebensunterhalt immer noch als Kleinbauern oder im informellen Sektor. Gleichzeitig hat Indien hochtechnologische und international erfolgreiche Industriezweige hervorgebracht, die Abermillionen die Existenz sichern (siehe Aditi Roy Ghatak im Schwerpunkt E+Z/D+C e-Paper 2018/10). Allerdings stellt Chinas rasante wirtschaftliche Entwicklung auch hier Indien in den Schatten (siehe Infokasten).
Ein weiterer Schwachpunkt ist Indiens anhaltendes Handels- und Leistungsbilanzdefizit, das die Wirtschaft anfällig für äußere Schocks macht. Wir leben in unruhigen Zeiten, in denen es immer schwerer wird, Entwicklungen vorherzusagen. Bislang hat sich Indien bei Handelsabkommen an WTO-Regeln gehalten. Aber der Einfluss der WTO sinkt. Dafür gibt es mehrere Erklärungen:
- Die WTO hat die multilaterale Handelsordnung seit 2001 kaum mit neuen Abkommen vorangebracht.
- Ihr System für Streitschlichtung wurde im Laufe der Zeit geschwächt, während internationale Handelskonflikte zunehmend eskalierten.
- Die wachsende Zahl regionaler und bilateraler Abkommen macht den Welthandel noch unübersichtlicher.
Auch Indiens Regierung führt inzwischen bilaterale Handelsgespräche und hat Verträge vor allem mit anderen asiatischen Partnern abgeschlossen. Indien ist in diesem Bereich aber weniger aktiv als in seinem Bemühen um multilaterale Abkommen. Es ist schwer einzuschätzen, welche Auswirkungen der derzeitige Handelsstreit zwischen China und den USA haben wird. Indien könnte profitieren, wenn chinesische Hersteller durch steigende Zölle international weniger wettbewerbsfähig werden. Wenn aber ein Abschwung der Weltwirtschaft und gestörte Wertschöpfungsketten die Konsequenz sein sollten, wird es Indien eher schaden.
Praveen Jha ist Wirtschaftsprofessor an der Jawaharlal Nehru Universität in Neu-Delhi.
praveenjha2005@gmail.com