Krieg
Als ich Gaza-Stadt verließ, blieb mein Herz unter den Trümmern
Die Entscheidung, Gaza-Stadt zu verlassen, fiel mir schwer. Gaza-Stadt ist für mich nicht nur ein Ort, sondern mein Leben. Gehen zu müssen, fühlte sich an, als würde man mir meine Seele rauben oder mich lebendig begraben.
Am 26. September passierte das, wovor ich immer Angst hatte: Ich wurde aus Gaza-Stadt vertrieben. Ich wurde aus meinem Zuhause im Stadtteil Al-Tuffah vertrieben und konnte mich nicht einmal richtig verabschieden.
Ich wünschte, ich könnte seine Mauern umarmen, mich auf seinen Boden werfen, seine kalten Fliesen küssen, die Zeugen meiner Lebensgeschichte sind. Ich wollte ihm aus der Ferne zuwinken, wie es sich für einen Ort gehört, der mich in jedem Moment der Liebe, der Angst, der schlaflosen Nächte und der Freude umgeben hat. Ich wollte dem Haus sagen, dass es stark bleiben, sich nicht um die willkürlichen Bombardierungen sorgen und seine Mauern schützen soll, die die Wärme und Liebe all meiner Jahre in sich tragen.
Ehe wir vertrieben wurden, war mir gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ich mein Haus liebte, dass es nicht nur Mauern waren, sondern mein Zuhause und meine erste Liebe. Ich dachte nächtelang über es nach, über seine kleinen Details, seine Fenster, die sich zum Leben hin öffneten, und ich fragte mich: Steht es noch? Kann es uns noch umschließen?
Ja, unser Haus hat ein zartes Herz. Es hat uns in unseren dunkelsten Momenten gestützt, unsere kleinen Freuden und einfachen Erfolge miterlebt und uns trotz aller Grausamkeiten warmherzig gehalten. Die Häuser von Gaza-Stadt sind keine stummen Steine – sie sind Wesen aus Fleisch und Blut, die ihren Bewohner*innen in ihrer Geduld und ihrer tiefen Liebe zum Leben ähneln; dem Leben, das sie verdienen.
Menschliche Schlachthöfe
Zwei Wochen bevor wir fliehen mussten, am 13. September, war ich mit meiner Familie in der Nähe der Tamraz-Station in der Al-Nafaq-Straße unterwegs in Richtung Al-Mushahara-Straße, als plötzlich ein Quadcopter eine Sprengbombe auf die Straße abwarf. Die Explosion war ohrenbetäubend. Ich rannte mit meiner Mutter, meinem Bruder Sameh und der Frau meines Bruders Mohammed zu einer Autowerkstatt in der Nähe.
Sofort spürte ich einen stechenden Schmerz in meinen Füßen. Bald spritzte das Blut aus dem rechten und dem linken Fuß und auch aus meiner Seite. Ich war nicht die Einzige, die verletzt war – auch meinen Bruder Sameh fand ich blutend und benommen vor, und meine Mutter blutete am ganzen Körper. Dennoch versuchte sie verzweifelt, nach uns allen zu sehen.
Wir blieben eine halbe Stunde lang in der Werkstatt, ohne dass ein Krankenwagen eintraf, bis sich einige junge Männer bereit erklärten, unsere Wunden fest zu verbinden, um die Blutung zu stoppen. Wir fanden schließlich ein Privatfahrzeug, das uns ins Krankenhaus brachte. Aber auch dort war die Situation schwierig – das medizinische Personal war mit einer Flut von Verletzten konfrontiert, und jede und jeder musste warten, bis er oder sie an der Reihe war.
Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Ich weinte so heftig wie nie zuvor – als würde alles, was sich in mir angestaut hatte, plötzlich herausbrechen. Ich spürte die schreckliche Angst, die ich seit Beginn dieses Krieges gehabt hatte: dass ein Granatsplitter eine Arterie getroffen haben könnte, dass mein Fuß amputiert werden müsste. In diesem Moment wollte ich lieber sterben, als ein Körperteil zu verlieren.
Als die Ärztin kam, schickte sie mich direkt zum Röntgen. Ich schaffte es kaum, dorthin zu laufen. Das Röntgengerät musste erst aufgeladen werden; ich wartete eine halbe Stunde und kam dann glücklicherweise als Erste dran. Ich bekam einen Verband und ging erschöpft nach Hause.
Aber mein linker Fuß begann wieder stark zu bluten, also suchte ich ein Krankenhaus in der Nähe auf, den Al-Shifa Medical Complex. Die Wunde musste gereinigt, sterilisiert und genäht werden, wie sich dort zeigte. Währenddessen wurde ich bewusstlos – vor Erschöpfung und Müdigkeit.
Die Szenerie in diesem Krankenhaus glich einem Massaker: Die Flure waren voller Verwundeter mit blutüberströmten Gesichtern, und Schreie erfüllten den Raum. Ich stand neben einem verwundeten Mann, der auf dem Boden lag und vor Schmerzen schrie, während er nach seiner Verlobten rief, die gerade ihr Leben verloren hatte. Neben ihm flehte eine weinende Mutter darum, man möge ihren blutenden Sohn retten.
Ich fühlte mich nicht wie in einem Krankenhaus, sondern wie in einem menschlichen Schlachthaus, wo offene Wunden und Schmerzen größer waren als das, was ein Mensch ertragen kann. In Gaza kann man froh sein, ein Krankenhaus körperlich intakt zu verlassen.
Wenn wir nicht verletzt worden wären oder zumindest eine medizinische Grundversorgung erhalten hätten, wären wir auf jeden Fall in Gaza-Stadt geblieben. Aber unsere schmerzenden Wunden, die Schwierigkeit, versorgt zu werden, und das Fehlen von Medikamenten zwangen uns zur zögerlichen Flucht. Ich bin nicht meiner Stadt entflohen – ich bin vor dem Schmerz geflohen, den ich nicht mehr ertragen konnte, vor einer Realität, die härter wurde, als ich es ertragen konnte.
Eine bittere erste Nacht auf der Flucht
Als es Zeit war, gen Süden zu reisen, lief ich langsam und mit Tränen in den Augen. Ich verabschiedete mich von den von Trümmern und Rauch bedeckten Straßen der Stadt und damit auch von einem Teil meines Herzens. Ich wusste nicht, ob ich je zurückkehren würde. Aber ich begriff, dass Vertreibung nicht nur eine physische Umsiedlung ist – sie bedeutet, seine Wurzeln, seine Erinnerungen und seine Identität zu verlieren. Dieser Tag lehrte mich, dass Vertreibung nicht nur Spuren an den Füßen hinterlässt, sondern vor allem im Herzen.
Mit Mühe fanden wir einen Ort, an dem wir unsere erste Nacht verbringen konnten. Wir landeten auf dem kalten Boden einer Autogarage, die mit einem Haus oder einer Herberge nicht das Geringste zu tun hatte. Wir suchten einfach nur nach einem Eckchen, um uns vor der Nacht zu schützen.
Wir hatten es geschafft, das Wasserfass zu füllen, das wir aus Gaza-Stadt mitgebracht hatten – ein kostbarer Schatz, den wir in Angst und Hoffnung transportierten. Um Mitternacht aber, gerade als wir nach einem langen, anstrengenden Tag versuchten, zur Ruhe zu kommen, explodierte das Fass plötzlich. Ich weiß nicht, wie und warum, aber das Wasser schoss heraus und überschwemmte alles: Kleidung, Decken, Matratzen, die Wärme, die wir zu erzeugen versucht hatten.
Das Fett und Öl vom Garagenboden durchtränkte unsere sauberen Kleider und machte sie unbrauchbar. In dieser Nacht saßen wir lange da und weinten – mehr aus Hilflosigkeit als aus Schmerz. Unsere erste Nacht im Exil war bitter und schmerzhaft, weit weg von unserer geliebten Stadt, und ertrinkend im dem einzigen Wasser, das wir hatten.
Ich habe Angst zu hoffen
Als die Verhandlungen wieder aufgenommen wurden und von Waffenstillstand oder einer temporären Waffenruhe die Rede war, verfolgte ich jede Nachricht mit großer Angst und Vorsicht. Ich vertraue nicht mehr so leicht. Ich bekam Angst vor der Hoffnung selbst, als wäre sie nur eine neue Falle. Sie haben uns so sehr enttäuscht, immer und immer wieder mit unseren Gefühlen gespielt, bis wir an nichts mehr glaubten.
Wir hatten Angst zu glauben, denn zu glauben bedeutete, wieder enttäuscht zu werden, wieder gebrochen zu werden, obwohl wir uns ohnehin kaum noch auf den Beinen halten konnten. Als der Waffenstillstand verkündet wurde, empfanden wir nichts. Wir hatten unsere Fähigkeit verloren, uns zu freuen, so wie wir alles andere verloren hatten. Wir waren nicht beruhigt, sondern von einer stillen Angst erfüllt, dass der Krieg jeden Moment zurückkehren und das, was von uns übrig war, verschlingen würde.
Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit @Egab veröffentlicht.
Ansam Al-Kitaa ist eine palästinensische Journalistin aus dem Gazastreifen, die multimedial arbeitet. Sie hat sich auf Berichte spezialisiert, die die Erfahrungen von Zivilist*innen in Krisensituationen dokumentieren.
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