Neue Regierung

„Er öffnet Wunden“

Rund die Hälfte der Bevölkerung Guatemalas ist indigener Herkunft. Trotz ihrer großen Zahl ist sie politisch unterrepräsentiert, im Schnitt ärmer und schlechter gebildet als die übrige Bevölkerung. Im Interview mit Eva-Maria Verfürth erklärt der Anwalt Carlos Hugo Leal Tot, dass die Repression zunimmt, sich die Indigenen andererseits aber immer besser organisieren. Anfang Oktober wurden mindestens sechs Demonstranten getötet – vermutlich von Sicherheitskräften.

Interview mit Carlos Hugo Leal Tot

Seit Ende des Bürgerkriegs 1996 kämpfen Indigene in Guatemala verstärkt für um die Umsetzung ihrer Rechte. Worum geht es ihnen dabei?
Es geht vor allem um Landrechte. Viele leben seit Generationen von den Erträgen ihrer Grundstücke, aber formale Eigentumsrechte daran haben die wenigsten. Darüber hinaus fordern sie Strom- und Wasserversorgung, Straßenanbindung oder Anschluss an das Telefonnetz.

Der Friedensvertrag betont auch den Schutz der „indigenen Identität“.
Das Recht auf Land und der Schutz der Identität sind im Prinzip zwei Seiten derselben Medaille. In vielen Dörfern Guatemalas, vor allem im Westen des Landes, gilt das Prinzip des Gemeinschaftseigentums. Wenn diese Dörfer Landtitel einfordern, dann verlangen sie implizit auch die Anerkennung dieser indigenen Form der Bodenordnung. Diese Gemeinden treten auch für direkte politische Mitsprache und Vertretung im Parlament ein. Vor den Behörden verlangen sie, mit ihrer Sprache und Kleidung akzeptiert zu werden. Sie haben in den letzten Jahren viel erreicht. Eine Reihe von Gesetzen, darunter jene über die Anerkennung und den Schutz der Landrechte und der indigenen Rechtssysteme, hat sie deutlich gestärkt.

Warum gibt es in Lateinamerika so oft Auseinandersetzungen zwischen Indigenen und Großunternehmen?
Ressourcenprojekte wie Bergbau- und Wasserkraftanlagen gehören zu den größten Bedrohungen für indigene Gemeinschaften. Unternehmen kaufen Land und beuten die natürlichen Ressourcen aus. Deshalb erfüllt es uns mit Sorge, dass unsere Ende 2011 gewählte Regierung so eng mit der Bergbau- und Ölbranche zusammenarbeitet. Sie hat schon zahlreiche Lizenzen ausgestellt. Wir fürchten auch die Verfassungsreform, die der Präsident plant, denn sie berücksichtigt nicht die Wünsche der indigenen Bevölkerung.

Der neue Präsident, Otto Pérez Molina, war während im Bürgerkrieg als General in Quiché eingesetzt, wo es besonders viele zivile Opfer gab. Kehrt die Vergangenheit zurück?
Pérez Molina schickt wieder Truppen in abgelegene Kommunen. Außerdem rüstet er die Polizei auf. Er öffnet so die Wunden der Vergangenheit. Indigene Gemeinschaften versuchen sich zu wehren, aber sie haben auch große Angst. Sie nannten Pérez Molina damals wegen seiner Brutalität „Kapitän der Asche“. Jetzt fühlt es sich ein bisschen so an, als wollte er sich rächen für das, was die vorherige Regierung unter Álvaro Colóm erreicht hat.

Colóm setzte durch, dass die Militärarchive geöffnet wurden und dass einige Militärs vor Gericht kamen  ...
...  und das Erste, was die neue Regierung getan hat, war die Archive wieder zu schließen und verstärkt Ex-Guerrilleros und indigene Führer zu verfolgen!

Von wem werden die indigenen Gemeinschaften unterstützt?
Fast alle arbeiten mit Nichtregierungsorganisationen (NGO) oder ausländischen Entwicklungsorganisationen zusammen. Meist gehören sie einem großen NGO-Dachverband in der Hauptstadt an, der dann den Kontakt zu Geldgebern oder Anwälten wie mir herstellt – zum Beispiel dem Comité de Unidad Campesina (CUC), oder der Coordinadora Nacional Indígena y Campesina (CONIC). Interessant ist aber, dass die Hautpstadt-Organisationen sich gegenüber dem neuen Präsidenten relativ still verhalten. Deshalb verlieren gerade viele indigene Gruppen das Vertrauen und kümmern sich lieber selbst um ihre Angelegenheiten.

Das heißt also, die Dachverbände werden schwächer und die Basis­initiativen stärker?
In gewisser Weise ja. Die Basisgruppen suchen auch selbst nach Geldgebern. Vor einigen Monaten zum Beispiel kam eine Delegation auf mich zu, die rund 40 Dörfer aus dem Norden vertritt, und bat mich, sie bei Wohn-, Straßenbau- und Kreditprojekten zu unterstützen. Die Gruppe war in die Hauptstadt gereist, um ihre Projekte vorzustellen, und sie hat wirklich einen Geber gefunden.

Wie helfen Sie diesen Leuten?
Ich bewahre sie davor, grobe rechtliche Fehler zu begehen, und erkläre ihnen die wichtigsten juristischen und administrativen Prozesse. Dafür verlange ich rund 80 Prozent weniger Honorar als andere Anwälte. Außerdem bin ich selbst Kek’chi-Indigener, ich kenne ihre Sprache und Kultur.

Wenn eine Dorfgemeinschaft Sie um Hilfe bittet, was raten Sie?
Zum Beispiel rate ich ihnen immer, sich ordnungsgemäß zu registrieren. Für indigene Gemeinschaften, die sich politisch beteiligen möchten, gibt es eine eigene Organisationsform – den COCODE (Consejo Comunitario de Desarrollo, Kommunaler Entwicklungsrat) –, die entsprechend der Traditionen der Gemeinde aufgebaut sein darf. In Guatemala dürfen nur eingetragene Gemeinden staatliche Förderung beantragen – egal, ob es um Strom, Wasser, Landrechte oder Kredite geht. Was vielen als verwaltungstechnische Nichtigkeit erscheint, ist also in Wirklichkeit essentiell für die Erfolgschancen. Außerdem schützt die Registrierung Aktivisten davor, im Fall eines Prozesses unter den Konditionen des „Gesetzes gegen das organisierte Verbrechen“ verurteilt zu werden.

Dieses Gesetz entstand, um dem Morden im Zusammenhang mit dem Drogenhandel Einhalt zu gebieten.
Ja, aber in letzter Zeit versucht die Regierung verstärkt, es gegen Demonstranten anzuwenden. Das Gesetz erlaubt es, Menschen ohne juristischen Prozess festzunehmen und die regulären Sanktionen zu verdoppeln oder zu verdreifachen, unter anderem bei Gewaltverbrechen oder Angriffen auf das Privateigentum. Im Moment protestieren beispielsweise in Santa Cruz Barillas, einem Dorf im Nordwesten des Landes, massenweise Anwohner, um den Bau eines Wasserkraftwerks zu verhindern. Fünf von ihnen wurden festgenommen und sollen nach dem Gesetz gegen das organisierte Verbrechen verurteilt werden. Wenn sie jedoch beweisen können, dass sie einer eingetragenen Organisation angehören – also einer vom Staat anerkannten und somit legalen Vereinigung –, müssen sie nach dem herkömmlichen Strafgesetz behandelt werden.

Funktioniert das wirklich?
Ende 2010 haben wir es geschafft, einen Demonstranten aus dem Gefängnis zu befreien, der wegen Anstiftung zu Gewalt inhaftiert war und unter Anwendung des Gesetzes gegen das organisierte Verbrechen festgehalten wurde. Wir konnten beweisen, dass er zu einer eingeschriebenen Organisation gehört.

Welcher Ihrer Fälle war besonders beeindruckend?
Vor einem Monat konnten wir den Prozess von acht indigenen Frauen gegen das Minenunternehmen Montana Exploradora Goldcorp abschließen. Es war ein sehr schwieriger Fall. Die Frauen aus dem Dorf San Miguel Ixtahuacan waren vier Jahre lang inhaftiert, und sind erst jetzt wieder freigekommen.

Worum ging es genau?
Die Geschichte begann im Jahr 2004, als das kanadische Unternehmen Montana mit dem Goldbergbau in der Mine Marlin begann. Es kaufte Bewohnern Land ab und stellte Wasser- und Stromleitungen auf. Eine Frau aus dem Dorf, Gregoria Crisanta Pérez Bámaca, warf aus Protest gegen die Strommasten, die Montana auf ihrem Grundstück errichtet hatte, im Juni 2008 einen Draht auf die Stromleitung und löste einen Kurzschluss aus. Die Stromzufuhr der Mine war unterbrochen. Als Montana-Mitarbeiter den Kurzschluss beheben wollten, versammelten sich Dorffrauen in Crisanta Pérez’ Haus und verweigerten den Ingenieuren den Zutritt. Acht Frauen wurden daraufhin verhaftet. Ihnen wurde unter anderem Anstiftung zu kriminellen Handlungen, Angriff auf öffentliche Versorgungseinrichtungen und Ungehorsam vorgeworfen. Der Fall wurde 2010 auf Eis gelegt, die Frauen blieben aber in Haft.

Wie ging es weiter?
Ende 2010 nahm sich die Bewegung „Movimiento de Mujeres Indígenas Tz’ununija“, mit der ich zusammen­arbeitete, des Falls an, und in gut anderthalb Jahren haben wir es geschafft, dass der Haftbefehl aufgehoben wurde. Tz’ununija kooperierte mit Anwälten, Historikern, Psychologen und Ingenieuren. Sie überzeugten die Frauen, vor ­Gericht auszusagen, und brachten entlastende Gutachten und Beweise vor. Crisanta Pérez wurde zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Die anderen ­Frauen wurden für unschuldig befunden. Das Unternehmen Montana verlor das Wegerecht für die Stromleitung auf dem Grundstück von Crisanta Pérez und musste die Strommasten entfernen. Das war ein Riesenerfolg.

Was werden Ihre nächsten Projekte sein?
Man hat mich gebeten, die Bevölkerung aus Barillas zu unterstützen, die sich gegen den Bau des Wasserkraftwerks wehrt, von dem ich soeben gesprochen habe. Aber ich weiß noch nicht, ob ich zusagen werde. Seit wir gegen die Montana gewonnen haben, erhält meine Familie Morddrohungen. Der Fall in Barillas wäre noch viel härter. Es ist sehr gefährlich.