Türkei
Eigenmächtige Hüter des Säkularismus
[ Von Canan Topçu ]
Das türkische Militär sieht seine gesetzlich definierte Rolle darin, die nationale Sicherheit zu wahren. Es gilt, die Rechtsordnung gegen jede Art der inneren und äußeren Gefahr zu schützen und die verfassungsmäßige Staatsordnung sowie die nationale Existenz und Einheit, alle Interessen auf internationaler Ebene, einschließlich der politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Interessen zu bewahren.
Mit diesem umfassenden Verständnis von nationaler Sicherheit können individuelle Freiheiten eingeschränkt werden. Gleichzeitig gibt es dem Militär große Einflussmöglichkeiten. Genau diese Macht des Militärs will die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan schwächen. Das wurde nicht zuletzt an der Wahl Abdullah Güls zum Staatspräsidenten deutlich.
Gegen den Widerstand der Militärs und einen nicht unerheblichen Anteil der Bevölkerung wählte das Parlament im Sommer 2007 ein Staatsoberhaupt, dessen Frau ein Kopftuch trägt. Die Kemalisten, wie sich die Anhänger Atatürks nennen, deuteten dies als Zeichen der zunehmenden Islamisierung der Türkei. Diese verbreitete Angst nutzt das Militär, um seinen Machtanspruch im Staat zu verteidigen. Autoritäre Strukturen werden damit in gewisser Weise konserviert.
Im Frühjahr 2008 führte schließlich der Machtkampf, der zwischen den Militärs und der AKP-Regierung von Ministerpräsident Erdogan ausgetragen wird, zu einem neuen Höhepunkt: Die Staatsanwaltschaft stellte einen Parteiverbotsantrag gegen die AKP, weil diese unter dem Deckmantel der Demokratisierung die verfassungswidrige Islamisierung des Landes vorantreibe. Im türkischen Staatsgrundgesetz jedenfalls hatte Kemal Atatürk das säkulare Prinzip verankert.
Darauf beruft sich das Militär noch heute. Doch der Versuch, über einen juristischen Putsch Einfluss auf die derzeitigen politischen Entwicklungen zu nehmen, misslang. Ende Juli entschied das Verfassungsgericht gegen das Verbot.
Für Außenstehende ist schwer nachzuvollziehen, warum die AKP als Gefahr für den säkularen Staat angesehen wird. Sie hat wie keine andere Regierungspartei Reformen durchgeführt und Kurs auf Mitgliedschaft in der EU genommen. Der Verbotsantrag verwundert auch, weil es sich bei der AKP um eine Partei handelt, die voriges Jahr mit 47 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt wurde. Neuwahlen waren wegen der Spannungen zwischen Militär und Regierung anlässlich der Präsidentschaftskandidatur Güls erforderlich geworden.
Sechs Säulen des Kemalismus
Die Türkei ist ein Land voller Widersprüche – eine Republik, in der das Militär seit der Staatsgründung in der Innenpolitik eine herausragende Rolle spielt und sich als Hüter des Kemalismus versteht. Um das Spannungsverhältnis zwischen Militär und Kemalisten auf der einen und der AKP-Regierung sowie ihren Unterstützern, einer keineswegs homogenen Gruppe, auf der anderen Seite zu verstehen, muss man wissen, wie die türkische Republik entstanden ist.
Die Trennung von Staat und Religion geht in der Türkei auf Atatürk zurück. Es ist eines der sechs Grundprinzipien, die bei der Staatsgründung eine Rolle spielten. Die Staatsideologie des Kemalismus betont außer Laizismus noch Nationalismus, Republikanismus, Volksnähe, Etatismus und Revolutionismus.
In 15 Jahren als Regierungschef setzte Atatürk im Einparteienstaat Reformen durch, die das politische und gesellschaftliche System grundlegend änderten. Als Offizier hatte er sich den Reformkräften, den sogenannten Jungtürken, angeschlossen. Nach der Niederlage der Osmanen im Ersten Weltkrieg führte er den Nationalen Befreiungskrieg gegen die westlichen Besatzungsmächte, die nach dem Vertrag von Sèvres (1920) das Land unter sich aufteilen wollten. In Ankara rief er 1923 die Republik aus und ließ sich zum Präsidenten wählen. Bewusst entschied sich Mustafa Kemal für Ankara als Hauptstadt. Istanbul war als Sitz der osmanischen Herrscher zu eng mit Sultanat und Rückschritt verbunden. Den Nachnamen Atatürk, was Vater der Türken bedeutet, verlieh ihm das Parlament erst später – im Jahr 1934 nämlich, als in der Türkei Familiennamen eingeführt wurden.
Atatürk war überzeugt davon, dass der Islam den Fortschritt behinderte. Er setzte mit der radikalen Trennung von Staat und Religion auch die Entmachtung religiöser Institutionen durch. Das Kalifat und die geistlichen Gerichte wurden abgeschafft, die Scharia wurde durch Schweizer und italienisches Recht ersetzt, Gesichtsschleier und der Fes wurden verboten.
1928 wurde eine neue Verfassung verabschiedet, in der es keine religiösen Bezüge mehr gab, das lateinische Alphabet wurde eingeführt und im Jahr darauf der Pflichtunterricht in arabischer und persischer Sprache abgeschafft. 1932 wurde dann der Muezzinruf auf Arabisch verboten, statt dessen erfolgte der Gebetsruf auf Türkisch. Erst seit 1950 ist der Muezzin wieder auf Arabisch zu hören.
Revolution von oben
Die Reformen waren umfassend. Sie betrafen das politische, soziale und religiöse Leben. Der „Vater der Türken“ machte aus dem Kalifatstaat einen laizistischen Nationalstaat mit neuer Rechtsordnung und regierte in dem von ihm gegründeten Einparteienstaat nach dem Prinzip der „Erziehungsdiktatur“, einer Theorie Lenins. Der Hintergrund: Etwa 90 Prozent der Einwohner waren Analphabeten. 80 Prozent lebten auf dem Land und orientierten sich an religiösen, regionalen und Stammeszugehörigkeiten. Das Volk war nach Ansicht Atatürks unwissend und musste erzogen werden.
Der Reformer und seine Mitstreiter verstanden sich als die Elite, die wusste, was gut für das Volk war. Sie scheute sich nicht, Menschen zu ihrem Glück zu zwingen. Bei Städtern und der gebildeten Schicht – eine Minderheit im neuen Staat – kamen die Reformen gut an. Das einfache Volk hingegen konnte mit Begriffen wie Nation nichts anfangen. Die Veränderungen wurden ihm befohlen. Darauf reagierte die ländliche Bevölkerung mit Unruhen und Widerstand.
Atatürk ließ solche Aufstände niederschlagen – mit Hilfe des Militärs, das von Anfang an die wichtigste Stütze des Staatsgründers war. Offiziere und Generäle waren seine treuesten Anhänger. Eine breite bürgerliche Schicht, die Atatürk beim Aufbau des Staates nach westlichem Vorbild hätte unterstützen können, hatte sich noch nicht geformt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass im ersten Kabinett der republikanischen Regierung ein Drittel der Mitglieder aus der Armee stammte. In Krisenzeiten konnte sich Atatürk auf die Streitkräfte verlassen, die ihre Macht seit der Gründung der Republik mit zwei Bedrohungsszenarien legitimieren: Separatismus und Islamismus. So irritiert die Befehlshaber denn heute auch, dass die AKP-Regierung gegenüber Kurden und Armeniern einen versöhnlicheren, toleranteren Kurs fährt, als das frühere Kabinette taten.
Religion im öffentlichen Leben
Schon nach dem Zweiten Weltkrieg war klar, dass der kemalistische Bruch mit dem religiösen Erbe nicht gelungen war. Der Islam war lediglich unterdrückt worden, hatte im Volk aber seine Bedeutung behalten. Daher gewann der Islam mit der Einführung des Mehrparteiensystems im Jahre 1946 wieder mehr Raum im öffentlichen Leben.
Die Demokratisierung führte zu einem Paradigmenwechsel: Zunächst hatte der Laizismus bedeutet, dass die Religion im Staatswesen keinerlei Einfluss haben sollte. Nun ging es darum, dass die Religionsbehörde Diyanet die Religion kontrollieren und ihre Ausübung prägen sollte. Säkularismus hat in der Türkei nie die institutionelle Trennung von Staat und Religion bedeutet. Auch ging es nicht um die Gleichbehandlung von Religionsgemeinschaften durch den Staat: Die Rechte von religiösen Minderheiten waren immer stark eingeschränkt. Christliche Religionsgemeinschaften dürfen bis heute keine Immobilien erwerben und keinen geistlichen Nachwuchs ausbilden.
Militärische Sonderrolle in der Verfassung
Atatürks Nachfolger Celal Bayer räumte mit der Schaffung des Nationalen Sicherheitsrates (NSR) dem Militär größeren Spielraum ein. Das Gremium wurde 1961 in der Verfassung verankert, auf diese Weise sicherten sich die Streitkräfte die Einflussnahme auf die Innenpolitik. Der NSR übt gegenüber der Regierung eine beratende Funktion aus und setzt sich aus den Oberbefehlshabern von Heer, Marine, Luftwaffe und Gendarmerie, dem Generalstabschef, dem Ministerpräsidenten, dessen Stellvertreter, dem Außen-, Innen-, und Verteidigungsminister sowie dem Staatspräsidenten zusammen.
Das Erbe des Staatsgründers zu wahren – dazu fühlten sich die Militärs bislang dreimal berufen: 1960, 1971 und 1980. Folter und Mord gehörten zu den Instrumenten der Machthaber. Einen „sanften Putsch“ gab es 1997 – die Regierung des Islamisten Necmettin Erbakan wurde unter Androhung eines militärischen Einsatzes abgesetzt.
All das fiel den Generälen leicht: Das Militär kontrolliert mit der Gendarmerie 90 Prozent des Landes, und es entzieht sich dank eigener Justiz der zivilen Gerichtsbarkeit. Der sich im Eigentum der Streitkräfte befindende Oyak-Konzern zählt zu den größten Industrie- und Handelsunternehmen des Landes. Der Konzern mit rund 60 Unternehmen und Beteiligungen – Banken, Minen, Stahl- und Kraftwerke – hat rund 35 000 Mitarbeiter und macht hohe Gewinne.
Mit der Änderung der Verfassung im Jahr 2003 reduzierte die AKP-Regierung die Macht des Militärs im NSR und veränderte die Zusammensetzung des Gremiums zu Gunsten ziviler Mitglieder. Konnte der NSR zuvor Empfehlungen in allen politischen Bereichen aussprechen, wurde dies auf die Sicherheitspolitik reduziert. Zudem wurden die Steuerungs- und Kontrollbefugnisse für die Umsetzung der Empfehlungen auf den Ministerpräsidenten und damit auf die politische Ebene übertragen.
Die Verfassungsänderung ermöglichte zudem die zivile Kontrolle des Militäretats. Das Parlament kann beim Rechnungshof die Überprüfung der Militärausgaben beantragen. Die Schwächung ihrer Position – nicht nur im NSR – sorgte bei den Generälen deshalb für großen Unmut. In Erdogan und seinen Mitstreitern sehen sie seitdem eine Gefahr für den Säkularismus im Sinne Atatürks. Es stimmt, dass Erdogan in der Vergangenheit fundamentalistisch agitiert hat, als Regierungschef erinnert er allerdings eher an deutsche Christdemokraten als an die Mullahs im Iran oder die Taliban in Afghanistan.
Dem Militär behagt die Reformpolitik der AKP-Regierung und Erdogans Kurs in Richtung Europäische Union nicht. Die Demokratisierung schränkt seinen Handlungsspielraum ein. Der EU-Beitritt der Türkei würde eine weitere Entmachtung bedeuten, denn eine so starke Position des Militärs entspricht nicht den rechtsstaatlichen Prinzipien der EU.
Lange Zeit erachtete die Bevölkerung die besondere Rolle des Militärs als legitim. Nun fordern aber immer mehr Menschen, darunter Intellektuelle, Menschenrechtler und der Industriellenverband TÜSIAD, dass sich das Militär aus Politik und Gesellschaft zurückziehen solle. Die Sorge des Militärs sei nur vorgeschoben. Tatsächlich gehe es um den Status quo der Generäle und Staatseliten.
Außerdem dürfe die stärkere Präsenz des Islams nicht als Islamisierung gedeutet werden, sagen Kritiker der Kemalisten. Die Religion sei über Jahrzehnte unterdrückt worden und gewinne jetzt im Zuge der Demokratisierung wieder mehr Raum in der Öffentlichkeit.