Identitätspolitik

Gefährliche Polarisierung

Die Ostukraine befindet sich in einer humanitären Notlage und die Regierung in Kiew wird der Flüchtlingsströme nicht Herr. Die Krise fordert die Zivilgesellschaft heraus.
Binnenflüchtlinge erhalten Hilfsgüter im Dezember in Kiew. Pilipey/picture-alliance/dpa Binnenflüchtlinge erhalten Hilfsgüter im Dezember in Kiew.

„Wir sind am Rande unserer Kapazitäten“, erzählt Maxim Butkeuych von der zivilgesellschaftlichen Organisation Social Action Center in Kiew. Die Ukraine zählt mehr als eine Million Binnenflüchtlinge. Die Vereinten Nationen gehen von 5 Millionen Hilfsbedürftigen aus. Laut Butkeuych stellt das die ukrainische Regierung vor ein völlig neues Problem. Ihr fehlten die nötige Expertise, aber auch der politische Wille, unterstützend einzugreifen. Deshalb übernähmen Bürgerinitiativen staatliche Aufgaben.

Die Rechtssituation der Flüchtlinge was amtliche Anmeldung, Sozialleistungen und andere Dinge angeht, ist schwierig. Denn die Regierung hat zwar auf zivilgesellschaftlichen Druck hin entsprechende Gesetze verabschiedet, wie Butkeuych berichtet, wendet diese aber nicht an.

Die Ukraine könnte von Georgiens Erfahrungen lernen, sagt Julia Kharashvili, die Vorsitzende von Consent, einem Verband binnenvertriebener Frauen in Tiblisi. In Georgien leben als Folge des Krieges mit Russland im Jahr 2008 noch immer 271 000 Menschen als Binnenflüchtlinge. Die georgische Regierung richtete damals sofort ein Steuerungskomitee für Flüchtlinge ein, das sie später zum Ministerium hochstufte. Laut Kharashvili war die Institutionalisierung wichtig.

Die Binnenflucht bietet in der Ukraine derweil auch Chancen, urteilt die deutsche Sozialwissenschaftlerin Kerstin Zimmer. So begegneten sich Angehörige unterschiedlicher Identitätsgruppen verstärkt, und das könne Toleranz und Zusammenhalt stärken.

Die ukrainische Gesellschaft ist sehr vielschichtig. In der Krise geht das Bewusstsein dafür aber verloren, bedauert die Historikerin Anna Wendland. Heute müssten sich alle Ukrainer als prorussisch oder proukrainisch positionieren. Diese Dichotomie werde dem Land von Russland auferlegt, meint Wendland, was letztlich dazu diene, den Machterhalt von Präsident Wladimir Putin in Moskau zu sichern.

Auch die Gesellschaft der Ostukraine ist divers und hat eine lebendige, Vielfalt bejahende Zivilgesellschaft. Darauf weist der deutsche Generalkonsul in Donezk, Detlev Wolter, hin. Es gebe zwar auf Grund der Geschichte der Sowjetunion einen fruchtbaren Boden für russische Propaganda, dennoch sei die Mehrheit der jungen Menschen für die Annäherung an die EU, sagte er im März während einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum.

Auch in der schwierigen aktuellen Lage ist in der Ostukraine zivile Konfliktbearbeitung dringend nötig, wie Cécile Durey von Swisspeace ausführt. Es gehe um die systematische Förderung von Dialog, Vergangenheitsbewältigung und Gewaltprävention. Der russischen Propaganda müsse entgegengewirkt werden.

Indessen wird der zivilgesellschaftliche Austausch zwischen Deutschland und Russland schwieriger. In Deutschland lasse das Interesse daran nach, während die Zusammenarbeit für russische Partner riskanter werde, berichtet Tim Bohse vom Verein Deutsch-Russischer Austausch. Kooperation sei aber nötig, um alte Feindbilder nicht aufleben zu lassen. Zivilgesellschaftliche Akteure könnten außenpolitisches und diplomatisches Scheitern nicht auffangen.

Politische Systeme müssen gestärkt werden, um Gewalt vorzubeugen, sagt Günther Bächler, der Schweizer Botschafter in Georgien. Er schätzt, dass es weltweit 40 fragile Staaten gibt, in denen Konflikte schnell eskalieren können. Um politische Lösungen möglich zu machen, sei unter anderem Entwicklungshilfe sinnvoll. Diplomatische Konzepte hätten sich zu oft als kurzfristig und schwach erwiesen.

Theresa Krinninger