Ungleichheit
Eigennützige Mittelschichten
Asiens wachsende Mittelschichten werden sich als gesellschaftliche Kraft erweisen, die sich für transparente und verantwortliche Regierungsführung einsetzt. Das sagt Noeleen Heyzer, eine Beraterin des UN Generalsekretärs. Aus ihrer Sicht werden Mittelschichten nicht auf Dauer dulden, dass Eliten Staaten kontrollieren, weil das ihren Ambitionen im Weg steht und ihren Lebensstandard beeinträchtigt. Steigende Einkommen sorgen für größeres Selbstbewusstsein und mithin für mehr politisches Engagement, meint Heyzer.
Die Geschichte von Ländern wie Taiwan oder Südkorea gibt ihr recht, denn Entwicklung und Menschenrechte haben wirklich miteinander zu tun. Fortschritt bedeutet, dass neue Quellen von Macht und Wohlstand entstehen. In Agrargesellschaften kommt es auf Landbesitz und Staatsgewalt an – aber im Zuge der Entwicklung werden Privatunternehmen, Börsen und Rechtssicherheit immer wichtiger. Was technischen Fortschritt betrifft, werden Hochschulen unverzichtbar. Ohne Meinungs- und Redefreiheit kann es aber keine dynamischen Kapitalmärkte, keine lebendigen Universitäten und keine zuverlässige Rechtskultur geben.
Deshalb teilen viele Entwicklungsexperten Heyzers Hoffnung hinsichtlich der Mittelschichten. Allerdings wird nicht alles, was theoretisch auf lange Sicht plausibel ist, kurzfristig wahr. Leider gibt es in vielen Ländern kaum Hinweise darauf, dass die Mittelschichten zu starken demokratischen Akteuren werden.
Undemokratische Haltungen
Ji Chen lehrt Politikwissenschaft an der University of Idaho. Er hat über Mittelschichten in Chinas Städten empirisch geforscht und sagt, diese interessierten sich nicht für Demokratie. Das liege daran, dass es ihnen dank der staatlichen Politik gut gehe. Folglich unterstützten sie das autoritäre Regime. Da sie von ihm abhingen, sagt der Professor, würden sie sich nicht gegen es erheben.
Auch afrikanische Mittelschichten setzen sich nicht ihrem Wesen nach für Demokratie ein. Laut Henning Melber von der schwedischen Dag-Hammarskjöld-Stiftung kontrollieren kleine Eliten Afrikas Staaten. Die Mittelschichten hätten kaum Mitsprachemöglichkeiten. Melber sagt, die Mittelschichten wollten zwar ihre eigene Lage verbessern, seien aber nicht bereit, armen Schichten etwas abzugeben. Vielmehr hielten sie diese für ungebildet und, wie Afrobarometer-Umfragen gezeigt hätten, für das Wahlrecht ungenügend qualifiziert.
Luís Lopez-Calva von der Weltbank spricht ähnlich über die Mittelschichten Lateinamerikas. Sie hätten in den vergangenen Jahrzehnten höchst undemokratische Regierungen befürwortet. Er meint, die Mittelschichten dächten in erster Linie pragmatisch und wollten ihren eigenen Lebensstandard verteidigen und, wenn möglich, verbessern. Wenn sie den Eindruck hätten, der Staat schütze sie, würden sie die Regierung unterstützen.
Andererseits wenden sich Mittelschichten auch tendenziell vom Staat ab, wenn sie mit seinen Leistungen nicht zufrieden sind, warnt Lopez-Calva. Die Versuchung, „aus dem Gesellschaftsvertrag auszusteigen“, wachse in dem Maß, in dem das öffentliche Bildungs- und Gesundheitswesen nicht ihren Ansprüchen genügten. Die Bereitschaft Steuern zu zahlen sinke dann, weil die Mittelschichten ihr Geld für private Schulen und Krankenhäuser ausgeben wollten. Falls die Polizei nicht viel tauge, bräuchten sie zudem private Sicherheitskräfte. Lopez-Costa warnt, schlechte staatliche Dienstleistungen seien ein Rezept für die gesellschaftliche Desintegration. Der sicherste Weg, Mittelschichten für die Demokratie zu gewinnen, sei deshalb, das Bildungs- und Gesundheitswesen zu stärken.
Der Begriff „Mittelschichten“ ist sehr unpräzise. Er spielt in der Entwicklungsdebatte heute eine große Rolle, weil die Einkommen vieler Menschen in Asien, Lateinamerika und Afrika in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen sind. Die multilaterale Afrikanische Entwicklungsbank schätzt, dass es heute rund 300 Millionen Mittelschichtsangehörige auf ihrem Kontinent gibt.
Das überzeugt aber nicht jeden. Raphael Kaplinsky von der britischen Open University spottete beispielsweise bei der 14. Generalkonferenz von EADI (European Association of Development Research and Training Institutes) in Bonn Ende Juni, dass mittlerweile alle, „die nicht verhungern“, zur Mittelschicht gezählt werden.
Bright Simons, ein Sozialunternehmer und Aktivist aus Ghana, der sich gegen gefälschte Pharmazeutika einsetzt (http://www.goldkeys.org), beurteilt das ähnlich. Er weist zudem darauf hin, dass Afrikas Mittelschichten nicht nur sehr heterogen sind, sondern auch von internen Spannungen geprägt sind. Von den hohen Wachstumsraten der vergangenen Jahre hätten bildungsferne Händlergruppen besonders profitiert, während viele Jugendliche mit Hochschulbildung keine adäquate Beschäftigung fänden. Je nachdem, ob man Bildung oder Einkommen als Definitionsgrundlage nimmt, komme man zu ganz anderen Schlüssen über die Lebenslage der Mittelschichten.
Stimmige Begriffsbestimmung
Wissenschaftler wissen, dass „Mittelschicht“ nicht einfach nur mit einem Einkommen über Subsistenzniveau definiert werden kann, wenn der Terminus für gründliche Analysen taugen soll. Der Weltbankmitarbeiter Lopez-Costa verwendet denn auch eine präzisere Definition. In seinen Augen gehört nur zur Mittelschicht, wer nicht in Gefahr ist, bald wieder in die Armut zurückzufallen. Nötig sei also ein Minimum an sozialer Sicherheit auf unterschiedlichen Grundlagen. Seinen Daten zufolge ist heute in Lateinamerika die so verstandene Mittelschicht größer als die Schicht der Armen – allerdings gebe es dazwischen eine noch größere Schicht, die weder wirklich arm noch zuverlässig abgesichert sei.
Diese Menschen haben laut Lopez-Costa zwar mehr als sie zum Überleben brauchen, aber Krankheiten, Unfälle oder Arbeitslosigkeit könnten schnell neue Not auslösen. Um ihre Lage zu verbessern, rät er, die soziale Infrastruktur auszubauen. Das ist nicht zufällig auch genau das, was die Anti-Fußball-WM-Demonstranten in Brasilien in jüngster Zeit gefordert haben.
Auf die Mittelschichten der reichen Welt kommt es auch an, wie Jürgen Wiemann, der Vizepräsident von EADI betont (siehe E+Z/D+C 2014/04, S. 164 ff.). Wachsende Kaufkraft in ärmeren Ländern führe nämlich dazu, dass dort das Konsumverhalten von Nordamerika, Westeuropa und Japan kopiert werde. Diese Gewohnheiten seien aber ökologisch nicht auf Dauer durchzuhalten, und die Umweltschäden nähmen umso mehr zu, je mehr Menschen sie übernähmen. Wiemann hält es für unwahrscheinlich, dass Konsumenten in ärmeren Weltgegenden ihre neugewonnene Kaufkraft ökokompatibel verwenden, wenn die Mittelschichten der etablierten Wirtschaftsmächte nicht mit gutem Vorbild vorangehen.
Link:14. EADI Generalkonferenz: