Mikrofinanzwesen

Tragödie in Andhra Pradesh

Mikrokreditprogramme haben in Indien einen Skandal ausgelöst. Die Medien geben ihnen die Schuld am Selbstmord überschuldeter Kunden. Die Berichterstattung bauscht das Thema zwar auf, aber das indische Mikrofinanzwesen ist in der Tat reformbedürftig.


[ Von Oliver Schmidt ]

Das Mikrofinanzwesen hat Millionen von Menschen am „Fuße der Einkommenspyramide“ (BoP – bottom of the pyramid) Chancen eröffnet. Diese Leute leben von geringen und zumeist schwankenden Einkünften. Ihre Arbeit ist tendenziell ungesund, wenn nicht gefährlich. Rund 400 Millionen BoP-Menschen leben in Indien.

Indien ist auch das Land mit den meisten Mikrofinanzprogrammen der Welt. Viele Mikrofinanzinstitutionen (MFIs) haben ihren Sitz im Bundesstaat Andhra Pradesh (AP), wo die Probleme des Sektors kürzlich internationale Schlagzeilen gemacht haben. Sicherlich muss das indische Mikrofinanzwesen verbessert werden, aber die Skandalberichterstattung ist überzogen. Es gab in AP eine Selbstmordwelle, aber sie ist nicht den MFIs anzulasten.

Im ländlichen Indien lösen anhaltende Dürren und schlechte Ernten häufig reihenweise Selbstmorde unter verzweifelten Armen aus. So war das auch in den vergangenen Monaten in AP. Die Medien verengten aber den Blick auf fünf Dutzend Fälle, bei denen die Verschuldung gegenüber einer MFI zu der Hoffnungslosigkeit beitrug, die Menschen in den Freitod trieb. Mikrokreditprogramme sind aber nicht die Hauptursache ländlicher Armut.

Die aktuelle Tragödie in AP ist international relevant. Denn verschiedene Trends, die das Mikrofinanzwesen weltweit prägen, sind hier nicht nur besonders evident, sie haben auch zur Krise beigetragen. Dazu gehören:
- auf Kreditvergabe spezialisierte MFIs ohne Sparoptionen,
- Wachstumsstrategien mit dem Ziel der Börsennotierung sowie
- unsinnige Regulierungen und politische Eingriffe.

Die Ereignisse in AP

2010 wurde SKS Microfinance mit Sitz in AP zur größten Mikrofinanzinstitution der Welt und ging an die Börse in Mumbai. Solch ein Börsengang scheint nicht recht zu ländlicher Not zu passen. Entsprechend schrieben viele Journalisten über profitgierige MFI-Manager und Selbstmorde in den Dörfern, aber sie vernachlässigten wichtige Aspekte.

Das wichtigste ist, dass Überschuldung kein neues Phänomen, sondern eine permanente Begleiterscheinung absoluter Armut ist. Gäbe es eine Methode, die Überschuldung der Armen kontinuierlich zu erheben, wären solche Daten gute Frühindikatoren für die Ausbreitung der Armut. Stattdessen hat Indien nur den brutalen Spätindikator steigender Selbstmordraten.

Wie alle Armen auf dem Land schulden indische MFI-Kunden vielen Parteien Geld. Dazu gehören Verwandte, Nachbarn, Ladenbesitzer und Händler, Grundbesitzer und selbstverständlich auch traditionelle Geldverleiher und Pfandwucherer.

Wie der Londoner Economist (19.11.2010) berichtete, schulden in AP 82 Prozent der Haushalte informellen Kreditgebern Geld, während nur 11 Prozent MFI-Darlehen aufgenommen haben. Zudem stehen die Schuldner im Schnitt bei informellen Gläubigern mit vier Mal so hohen Summen und zu höheren Zinsen in der Kreide als bei den MFIs. Nur drei Prozent der MFI-Kunden waren bei mehr als einer MFI verschuldet. Der Economist zitierte eine aktuelle empirische Studie. Solche Zahlen zeigen, dass die MFIs bestimmt nicht das Hauptproblem sind, auch wenn sie zur Überschuldung beitragen können.

Problematische Beschränkung

Das heißt nicht, dass bei den MFIs in AP alles in Ordnung wäre. Ihr größtes Manko ist, dass sie nur Kredite anbieten, aber keine Sparkonten. Aus vielen Gründen ist sich die Fachwelt einig, dass MFIs, die mit Spargeldern arbeiten, besser sind als reine Kreditvergeber. Arme und nicht ganz so arme Leute wünschen sich sichere und verlässliche Orte für ihre Ersparnisse. Wo solche Möglichkeiten bestehen, interessieren sich mehr Menschen fürs Sparen als für Mikrokredite. Sparkassen bieten die Dienstleistung, die sich die meisten Armen wünschen.

Empirische Studien zeigen zudem, dass MFIs, die sowohl Spar- als auch Kreditprodukte anbieten, bessere Ergebnisse erzielen als die, die nur auf eines dieser Felder ausgerichtet sind. Das Finanzleben armer Menschen ist oft komplex – sie nutzen informelle Möglichkeiten, bei denen Sparen und Leihen ständig ineinander greifen (siehe Collins et al., 2009).

Die berühmte Grameen Bank in Bangladesch ist ein Beispiel für diesen Trend. Sie begann als reine Kreditinstitution, wurde aber später umstrukturiert (Grameen II) und seither gehören private Sparkonten zu ihren populärsten Dienstleistungen.

Anders als MFIs mit Sparguthaben sind reine Kredit-MFIs auf externe Refinanzierung angewiesen. Viele MFIs – so auch SKS in AP und die Grameen Bank in Bangladesch – arbeiteten anfangs mit kostenfreier Geberfinanzierung. Auf dieser Basis bleiben die meisten MFIs allerdings klein und lokal. Manche wachsen aber auch, indem sie als Finanzintermediäre Geld von Banken und anderen Institutionen leihen und als Mikrokredite weiterverleihen. Auf Spargeldern basierende MFIs leiden nicht unter diesem Engpass. Sie refinanzieren sich über lokal mobilisiertes Sparguthaben (Seibel, 2010).

Aber dies verbietet das indische Recht den MFIs leider. Wenn eine reine Kredit-MFI wachsen will, wird für sie der Zugang zu Kapital deshalb zum wichtigsten Thema. Vier der zehn weltweit größten MFIs (gemessen an der Zahl der Kreditnehmer) sind indisch, und drei haben ihren Sitz in AP.

Für MFIs, die Kapital brauchen, sind Börsengänge attraktiv, weil sie auf einen Schlag viel Geld mobilisieren können. SKS war weltweit die zweite MFI, die an die Börse ging. Die erste war 2007 Compartamos in Mexico. In beiden Fällen wurden die MFI-Manager später der Selbstbereicherung beschuldigt. In der Tat eröffnen die großen Summen, die Börsengänge bewegen, den Verantwortlichen die Möglichkeit, beträchtliche private Gewinne zu verbuchen. Es ist kein Zufall, dass sich SKS kurz nach seinem erfolgreichen Börsengang in ernste Governance-Probleme versprickte.

Sowohl Compartamos als auch SKS waren um ein Vielfaches überzeichnet. SKS strich durch den Börsengang rund 350 Millionen Dollar ein und profitierte dabei sogar von der globalen Finanzkrise. Internationale Investoren suchen nämlich nach neuen Anlagemöglichkeiten, und das indische Mikrofinanzwesen wirkte sicherlich attraktiv. Die SKS-Gründer standen zudem mit Silicon Valley in Verbindung und setzten geradezu obsessiv auf profitmaximierendes Wachstum.

Die Börsenstrategie hat einige Nachteile. Am schlimmsten ist der Druck, schnell zu wachsen und extrem profitabel zu sein. Innerhalb einer Branche mobilisieren meist die Firmen, die als erste an die Börse gehen, am meisten Kapital. Expansion ist, wie jeder BWL-Student lernt, ein sinnvoller Weg, die Kosten pro Einheit zu senken. Um viele Aktien zu verkaufen, sind obendrein starke Ergebnisse nötig. Ein Börsengang ist letztlich nichts anderes als eine öffentliche Auktion, bei der die Bieter auf hohe Profitabilität reagieren. SKS versprach eine Rendite von 24 Prozent des eingesetzten Kapitals. Dass andere MFIs in AP gleichzeitig eigene Börsengänge vorbereiteten, trieb die Dinge auf die Spitze.

Wegen des Wachstums- und Profitdrucks investierten MFIs in AP zu wenig in ihr Personal und vernachlässigten interne Kontrollen.

Gruppensorgen

Alle großen MFIs in AP arbeiten nach dem Grameen-Modell mit Gruppen-garantierten Krediten. Diese Gruppen bestehen zumeist aus fünf Kreditnehmern, die sich wechselseitig sowie der MFI gegenüber verantwortlich sind. Die Gruppe garantiert, dass die Kredite bedient werden. Das funktioniert nur, wenn die Gruppen verstehen, was sie tun. Sie müssen also von der jeweilige MFI sorgfältig geschult und betreut werden.

Der Gruppenansatz ist bei armen Kunden, die oft Analphabeten sind, sinnvoll. Er ist aber arbeitsintensiv. In ihrem Streben nach raschem Wachstum vernachlässigten die MFIs in AP Pflichten gegenüber den Gruppen. Zu den problematischen Erscheinungen zählten:
- Zugehörigkeit von Gruppen und/oder Gruppenleitern zu mehreren MFIs,
- Kreditvergabe ohne ausreichendes Gruppentraining und vermutlich ohne Risikobewertung,
- Streckung von Krediten, um verspätete Rückzahlungen zu verschleiern,
- Fälschung von Gruppen- und/oder Kundenidentitäten („Geisterkunden“) und
- Unteraufträge and Kreditagenten.

Zweifellos haben diese Missstände zur Überschuldung einzelner Personen beigetragen. Es gibt auch Hinweise darauf, dass Druck auf zahlungsunfähige Mitglieder ausgeübt wurde – mit Drohungen, Beschämung in der Öffentlichkeit, Eingriffen in die Privatsphäre und der illegalen Inbesitznahme deklarierter oder undeklarierter Sicherheiten.

Die Liste solcher Vorkommnisse scheint lang zu sein. Die Polizei nahm deswegen bereits MFI-Mitarbeiter fest. Zweifellos hat solcher Druck zur Verzweiflung einiger Menschen bis hin zum Selbstmord beigetragen. Selbstverständlich ist jede Verstrickung von Institutionen, die behaupten, sie kämpften gegen die Armut und wollten die Lebensumstände verbessern, in solche Vorkommnisse völlig inakzeptabel.

Dennoch muss Klarheit darüber herrschen, dass die MFIs die Überschuldung nicht verursacht haben. Anfang Dezember war noch kein Fall bekannt, in dem eine MFI der einzige Grund für einen Selbstmord war. Laut einem Bericht sollen MFI-Mitarbeiter entscheidende Rollen in 23 Selbstmordfällen gespielt haben, aber die Autoren nennen die MFIs nicht beim Namen und ein Kritiker meint, sie hegten prinzipielle Vorurteile gegen die indischen MFIs (Rai, 2010).

Zu viele indische MFIs setzten auf Wachstumsstrategien, ohne sich ausreichend um die Risiken zu kümmern. Sie sind nicht für die Selbstmordwelle verantwortlich – sehr wohl aber für den desolaten Zustand ihrer Branche. Das Vertrauen in die MFIs ist erschüttert, und es ist noch völlig unklar, wie die MFIs aus der Krise herauskommen werden. Viele Kunden fühlen sich nicht mehr verpflichtet, ihre Schulden zu bedienen.

Ungenügende Vorschriften

Die Rahmenbedingungen waren für MFIs in Indien nie gut. Anders als in Bangladesch, dürfen sie keine Sparkonten einrichten. Die indische Zentralbank Reserve Bank of India (RBI) setzt solche Vorschriften streng durch. Sie ist für geringe Flexibilität und entsprechende Innovationsbehinderung bekannt.

Die indischen MFIs haben mithin nur sehr beschränkte Wachstumsoptionen. Viele von ihnen haben begonnen, Policen von Versicherungen zu vertreiben. Sie haben vermutlich mehr Menschen mit niedrigem Einkommen mit Versicherungen versorgt als jede andere Initiative weltweit. Es ist bitter, dass diese Leistung jetzt gegen sie gewendet wird. Typischer Weise schließen MFIs Lebensversicherungen für ihre Kreditnehmer ab. Stirbt die Person, deckt die Versicherung die ausstehenden Schulden ab. Die Medien – unter anderem Die Zeit in Deutschland – legen nun nah, dies sei ein Anreiz, Menschen in den Selbstmord zu treiben.

Indische MFIs haben verschiedene Diversifikationsstrategien gewählt. BASIX etwa bietet Finanzierungshilfen für den Ausbau der landwirtschaftlichen Infrastruktur an, Spandana führte einen Agrarkredit ein und Ujjivan einen Wohnbaukredit. Aber sie alle bleiben reine Kreditunternehmen. Wachstum und Profitabilität hängen davon ab, mehr Menschen mehr Geld zu leihen. Für ihre Refinanzierung halten sich diese MFIs an Indiens verstaatlichte Banken, die ihrerseits einen traurigen Ruf von Ineffizienz, schlechten Dienstleistungen und Nachlässigkeit haben.

Letztlich hat der indische Gesetzgeber versagt. Im weltweiten Bestreben, den Armen Zugang zu Finanzdienstleistungen zu ermöglichen, bleibt dieses Land zurück. Statt Innovationen einzuführen, zwang Indien die MFIs zum reinen Kreditgeschäft. Inadäquate Regeln nähren zudem informelle Wirtschaftspraktiken, die Korruption, Klientelismus und illegale Ausbeutung gedeihen lassen.

Es ist eine Farce, dass sich indische Politiker jetzt über reiche MFI-Manager empören, die offenbar ihr Vermögen damit gescheffelt haben, den Armen Geld zu Wucherzinsen zu leihen. Dieselben Politiker haben es versäumt, geeignete Rahmenbedingungen für ein gesundes MFI-Wachstum zu schaffen. Sie haben die große Mehrheit der Wähler im Stich gelassen – die indischen Haushalte mit niedrigen und sehr niedrigen Einkommen.

Die Landesregierung von AP hat auf die Krise mit einer Verordnung reagiert, welche die Zeit bis zur Gesetzesreform überbrücken soll. Sie legt fest, dass
- MFIs ihre Aktivitäten auf Distriktebene melden müssen,
- jeder leitende MFI-Mitarbeiter, der ungebührlichen Druck auf Schuldner oder deren Familien macht, mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden kann und
- es MFIs untersagt ist, mehr Zinsen zu nehmen als der ursprüngliche Kredit beträgt.

Diese Verordnung löst offensichtlich das Problem der untauglichen MFI-Gesetzgebung nicht. Verantwortlich sind letztlich die RBI und die indische Bundesregierung. Letztere hat für Januar 2011 einen Gesetzesentwurf angekündigt. Hoffentlich wird der von Bangladesch inspiriert sein, wo die Regulierung viel besser ist. Den Schaden in AP zu reparieren, wird sicherlich sehr viel schwieriger, als es gewesen wäre, von vornherein stimmige Rahmenbedingungen zu schaffen.

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