Stadtleben
Vor der Polizei haben Rios Arme begründete Angst
Luis Felipe Rodrigues gehört zu einem Sambaverein in einer Favela. Er schätzt, dass vielleicht sieben Prozent der Anwohner mit illegalen Drogenbanden irgendwie zu tun haben. Polizeigewalt drohe aber auch den übrigen 93 Prozent. Das staatliche Institut für öffentliche Sicherheit des Bundesstaates stellte fest, Polizisten hätten 2019 im ersten Halbjahr 885 Menschen getötet. Davon waren 711 – also 80 Prozent – Persons of Colour.
Die nichtstaatliche Organisation Rio de Paz hat 57 Presseberichte über versehentlich erschossene Kinder aus den Jahren 2007 bis 2019 ausgewertet. In über der Hälfte der Fälle lag es an Querschlägern bei Gefechten zwischen Polizei und Mafia.
Angehörige der höheren Schichten verachten Favelas als Umfeld der Kriminalität. Sie übersehen geflissentlich, dass viele reiche Leute in Wirtschaftsverbrechen involviert sind. Ein prominentes Beispiel ist Sérgio Cabral, ein ehemaliger Ministerpräsident des Bundestaats Rio de Janeiro. Wegen Korruption, Veruntreuung und Geldwäsche wurde er zu 45 Jahren Haft verurteilt.
Es ist zudem bekannt, dass Mafiabanden enge Verbindungen zu Behörden pflegen. Der Sozialwissenschaftler Thiago Rodrigues spricht von „symbiotischen Beziehungen“. Das war auch der Titel seines Aufsatzes, den die Konrad-Adenauer-Stiftung 2018 veröffentlichte (siehe Blog auf unserer englischen Website). Der Autor räumte ein, die Drogenwirtschaft dominiere manche Favelas, betonte aber, die Banden bestächen Sicherheitskräfte, Richter und Politiker. So entstehe ein prekäres Gleichgewicht, das für alle Seiten Risiken reduziere und für die mächtigsten Akteure sehr profitabel sei.
Manchmal dringt die Polizei aber mit Gewalt in eine Favela ein. Die Opfer, sagt Favela-Bewohner Luis Felipe Rodrigues, seien dann Unbeteiligte sowie Mafiamitglieder der untersten Ränge.
Link
Thiago Rodrigues, 2018: Symbiotische Beziehungen.
https://www.kas.de/en/web/auslandsinformationen/artikel/detail/-/content/symbiotische-verbindungen