Fallbeispiel
Segen der Familie
Die anwesende Psychologin schlussfolgert daraus – und aus weiteren Antworten der Kandidatin –, dass diese eine ausgeprägte abhängige Persönlichkeitsstörung habe und dringend einen Ich-stärkenden und das Selbstbewusstsein fördernden Workshop besuchen solle.
Auf die Frage, wie sie darauf komme, obwohl sich die junge Frau für eine Ausbildung als Pilotin bewerbe und eine sehr erfolgreiche Biografie aufweisen könne, antwortet die deutsche Psychologin, die Kandidatin habe bei allen Fragen den Wunsch der Familie vor ihren eigenen Wunsch gestellt. Keinen Satz formulierte sie in Ich-Form.
Die Psychologin wurde über das kollektive Bewusstsein in Syrien und die kollektive Struktur der arabischen Muttersprache der Bewerberin aufgeklärt und sollte im Dialog mit dieser ihre Hypothese hinterfragen. Im Rahmen einer Supervision berichtete die Psychologin mit Verwunderung, dass es die junge Syrerin geschafft habe, ihre Großmutter und einen Onkel von ihrem Vorhaben zu überzeugen und über deren Segen auch den Segen der Eltern für die Pilotenausbildung zu erhalten. Sie habe sich nicht von ihrem Traum abbringen lassen und dafür auch in der Familie gekämpft. Gleichwohl habe sie nicht ohne den Segen der Familie mit der Ausbildung anfangen wollen, da „Frieden der Seele“ wichtiger sei als ein erfüllter Traum mit gebrochener Seele.
Das Fallbeispiel macht deutlich, dass die Interpretationen von den jeweiligen Schablonen des Beobachters abhängig sind. Umgekehrt wäre die deutsche Psychologin in Syrien als eine narzisstische, selbstverherrlichende Person wahrgenommen worden, die keine Rücksicht auf andere nimmt. Beide Interpretationen sind nicht neutral in der Bewertung der Situation. (sgb)