Globale Trends
„Veränderung kann man messen, ihre Gründe nicht“
Medien berichten häufig über das Elend der Welt wie Hungersnöte und Katastrophen – von Entwicklungserfolgen hingegen hört man eher selten. Was denken Sie: Ist die Welt seit der Jahrtausendwende besser oder schlechter geworden?
Das hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. Sicher hat sich der Trend, dass Entwicklungsländer mehr Handlungsspielraum haben, verstärkt. Das kann aber aus Sicht der Industrieländer als Verschlechterung wahrgenommen werden. Denn es stellt eine Machtverschiebung dar. Verschärft wird das noch durch die Zerbröckelung des Westens, die wir aktuell erleben. Der Konsens mit den USA besteht nicht mehr, und er wackelt auch innerhalb der Europäischen Union. Schaut man sich die Daten zu einzelnen Faktoren an, die zum Beispiel die Weltbank erhebt, sieht man auf jeden Fall Erfolge. Die extreme Armut hat abgenommen. Das heißt allerdings nicht, dass das Problem gelöst wäre: Viele Menschen leben noch mit sehr wenig Einkommen. Mein Eindruck ist, dass in vielen Entwicklungsländern Optimismus vorherrscht: dass sie neue Chancen für sich sehen. Die Sichtweise von vielen im Westen, dass die Lage in zahlreichen Bereichen schlechter wird, teilt die Mehrheit eher nicht. Wobei man beachten muss, dass der „globale Süden“ eine sehr heterogene Gruppe ist. In manchen Ländern gab es Verbesserungen, in anderen verschlechtert sich die Lage. Ein Beispiel ist Brasilien: Dort haben die Armut und die extreme Ungleichheit der Einkommen zu Beginn des Jahrtausends abgenommen, jetzt ist der Trend wieder gegenläufig. Und überall, wo Krieg herrscht, geht es bergab statt bergauf. Subsahara-Afrika steht ein großes Bevölkerungswachstum bevor, was enorme Herausforderungen mit sich bringt. Dort probieren jetzt Länder wie China und Indien ihre Formen der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) aus. Die Karten werden neu gemischt.
Was sind denn die wichtigsten Entwicklungserfolge der vergangenen Jahre?
Als Erstes ist sicher die Verringerung der extremen Armut zu nennen. Man muss sie allerdings im Zusammenhang mit der sozialen Ungleichheit sehen. In manchen Ländern ist es gelungen, beides zu verringern, zum Beispiel in Brasilien, Kambodscha, Mali, Peru und Tansania. In vielen Ländern gibt es ein gestiegenes Interesse am Ausbau sozialer Sicherungssysteme – was ein wichtiger zivilisatorischer Fortschritt ist. Beispiele sind Cash-Transfer-Systeme wie in Mexiko, Indien und Bolivien. Die Sustainable Development Goals (SDGs) fordern nun einen breiten Zugang zu Krankenversicherungen, und eine Altersversorgung wird auch immer wichtiger. Solche Entwicklungen sind auch Bezugspunkte für gesellschaftliche und politische Bewegungen. Ein weiterer wichtiger Erfolg ist, dass Entwicklungsländer in der Lage und bereit sind, mehr Verantwortung zu übernehmen – für Verbesserungen im eigenen Land und für die Lösung globaler Probleme. Dies zeigt sich im Pariser Klimaübereinkommen und in der Agenda 2030: Alle Länder verpflichten sich hier zum Handeln. Entwicklungsländer werden jetzt als Teil der Lösung gesehen und sehen sich selbst auch so. Die Vorstellung, dass der Norden Ziele setzt und dafür Entwicklungsländer unterstützt, ist überwunden. Das spiegelt deren gewachsene Stärke wider.
Welchen Anteil hatte die Entwicklungshilfe an diesen Erfolgen?
Also, die Verringerung der Armut hängt stark mit Wirtschaftswachstum zusammen; sie erfordert aber auch Umverteilung durch höhere Löhne, Steuergerechtigkeit und den Ausbau sozialer Sicherung. Auch andere Faktoren spielen eine Rolle, etwa die Zunahme von Beschäftigung im formellen Sektor. Dadurch gibt es mehr besser abgesicherte Arbeitsplätze. Das hat zum Beispiel in Brasilien zu weniger Armut geführt. Der Rohstoffboom hat das Wirtschaftswachstum angetrieben, aber insbesondere in Afrika nicht zu einer breiten Verringerung von Armut beigetragen. EZ an sich führt nicht zu Wirtschaftswachstum. Bei der sozialen Sicherung kann sie schon mehr bewirken. Viele innovative Verfahren wie die bereits angesprochenen Cash Transfers wurden durch EZ kofinanziert und begleitet. Evaluierungen der Geber zeigen nun Verbesserungsbedarf, um anhaltend positive Wirkungen zu erzielen. Auch für den Ausbau erneuerbarer Energien und andere Maßnahmen des Klimaschutzes leistet die EZ einen wichtigen Beitrag. Hier brauchen die Entwicklungsländer viel technische Unterstützung und Finanzierung. Das Gleiche gilt für den Umweltbereich. Investitionen in den Umweltschutz sind maßgeblich durch die Geber ermöglicht worden, etwa im Tropenwaldschutz in Lateinamerika und Afrika.
Wie kann man den Erfolg von Entwicklungshilfe überhaupt messen?
Messbar ist, welche Bereiche durch EZ-Mittel gefördert werden und wie sich diese Finanzflüsse über die Zeit ändern. So konnte für die Millennium Development Goals (MDGs) gezeigt werden, dass sie zu einer Fokussierung der Finanzströme beigetragen haben. Inwiefern die EZ-Gelder aber ursächlich zu verbesserten Indikatoren wie erhöhtem Schulbesuch und besserem Zugang zu Trinkwasser beitragen, ist schwerer festzustellen. Dafür braucht es länderspezifische Analysen und Evaluierungen. Insgesamt hat die starke Abnahme der Armut vor allem mit Entwicklungserfolgen in China zu tun, die das Land eigenständig erreicht hat. Bei den SDGs wird es komplexer, weil sie sehr viele Handlungsfelder umfassen. Hier wäre es interessant zu vergleichen, welche davon in welchem Umfang durch die EZ unterstützt werden und ob dort, wo die EZ Schwerpunkte setzt, auch schneller Verbesserungen erzielt werden. Veränderung kann man messen, aber Kausalbeziehungen herzustellen ist sehr schwer. Dazu ist die Datenlage oft zu dünn. Hilfreich wäre es, wenn die Geber selbst vermehrt ihre Wirkung untersuchen lassen. Dazu wäre eine systematische Evaluierung nötig, nicht nur auf Projektebene, sondern auf der systemischen Ebene, und zwar über längere Zeitraume.
Werden denn positive Veränderungen, die man durchaus messen kann, wie Sie gesagt haben, ausreichend kommuniziert?
Nein, ich finde nicht, dass sie gut genug kommuniziert werden. Das kann man aber dem BMZ nicht vorwerfen. Es liegt hauptsächlich am fehlenden Interesse der Medien. Ich würde mir wünschen, dass Journalisten offener in bestimmte Länder gehen, ohne vorgefertigte Vorstellungen, und dort schauen: Welche Problemlagen sind aus Perspektive der Länder wichtig? Gleichzeitig wünsche ich mir ein besseres Nachhalten internationaler Prozesse auch in der Tagespresse. Und auch in den demokratischen politischen Parteien wünsche ich mir mehr Interesse an den Entwicklungsländern. Für informierte Entscheidungen können sie auch die politischen Stiftungen stärker nutzen, die in Entwicklungsländern ja sehr präsent sind (siehe E+Z/D+C e-Paper 2017/12, S. 35). Von Stiftungsmitarbeitern habe ich öfter gehört, dass es ausgesprochen schwer ist, innerhalb ihrer Parteien Interesse für Entwicklungspolitik zu wecken. Das gibt mir sehr zu denken. Es ist wichtig, dass die politische Basis für die Entwicklungspolitik nicht wegbricht. In unserer Gesellschaft hingegen ist das Interesse an nachhaltiger Entwicklung, in den Ländern des Südens wie in Deutschland und Europa, sehr groß. Die Bedeutung der Kooperation mit Entwicklungsländern müsste insbesondere neuen Bundestagsabgeordneten nahegebracht werden. Dabei geht es nicht nur um Entwicklungsfragen, sondern auch um Sicherheitspolitik, Außenpolitik, Wirtschaftspolitik und so weiter. Es ist wichtig, die Entwicklungsländer als Partner und nicht nur als Objekte der Entwicklungspolitik wahrzunehmen.
Was sind die wichtigsten Faktoren, die Entwicklungserfolge in der nahen Zukunft bestimmen werden?
Die Delphi-Studie bildet das ganz gut ab (siehe Kasten). Ich finde alle dort identifizierten Trends wichtig. Bevölkerungswachstum zum Beispiel ist vor allem in Afrika ein Thema – in Asien gibt es ja teilweise schon stark alternde Gesellschaften. Digitalisierung ist ein wichtiger Trend, der enorme Auswirkungen auf die komparativen Vorteile von Entwicklungsländern haben wird. So wird die Automatisierung der Produktion den Vorteil niedriger Lohnkosten zunichtemachen und die Integration in die Weltmärkte erschweren. Dies wiederum könnte einheimischen Unternehmen mehr Chancen auf lokalen und regionalen Märkten eröffnen. Auch der Klimawandel ist von großer Bedeutung, das sieht man ja bereits. In Entwicklungsländern werden viele Veränderungen anders spürbar werden als bei uns, weil sie weniger finanzielle und Wissensressourcen haben, um sich darauf einzustellen. Je weniger die Industrieländer dazu bereit sind, vorsorgend zu handeln, desto größer werden die Belastungen für Entwicklungsländer, vor allem in Afrika und den kleinen Inselstaaten. Interessant an den Trends der Delphi-Studie finde ich, dass sie für Deutschland genauso relevant sind wie für Entwicklungsländer. Die Reaktions- und Vorsorgemöglichkeiten sind verschieden – aber kein Land bleibt verschont. Darin liegt auch eine Chance für Kooperation.
Wie kann eine solche Studie zur Wirksamkeit entwicklungspolitischer Maßnahmen beitragen?
Für die Studie wurden Experten gefragt, ob sie den dargestellten Trends zustimmen und ob Entwicklungspolitik diese Trends positiv beeinflussen kann. Die Zustimmung der Experten zur Relevanz der identifizierten Trends war sehr hoch, aber zur Frage, wie relevant Entwicklungshilfe für die einzelnen Bereiche ist, teilweise sehr unterschiedlich. Darauf kann die Entwicklungspolitik nun reagieren. Sie muss entscheiden, ob sie etwa dort agieren will, wo die Trends sich am stärksten auswirken oder wo der Hilfebedarf am größten ist und ob sie in neuen Feldern mit innovativen Ansätzen experimentieren will – und diese Experimente dann auch gleichzeitig erforschen und evaluieren lässt. Zu so einer strategischen Debatte kann die Delphi-Studie einen Beitrag leisten, wenn sie im BMZ entsprechend aufbereitet wird. Klar ist, dass das nur der Anfang einer Diskussion ist. Konkrete Handlungsempfehlungen gibt das Papier nicht.
Imme Scholz ist stellvertretende Direktorin des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE).
imme.scholz@die-gdi.de