Kommentar
Die Bedrohung durch Boko Haram
Von Vladimir Antwi-Danso
Die Anschläge in Kano Ende Januar und die Bomben zu Weihnachten 2011 rückten die Bedrohung durch die islamistische Sekte „Boko Haram“ neu ins Bewusstsein. Der Name bedeutet „Westliche Bildung ist Sünde“ und steht für Terroristen in Nigeria, die möglichst viel Blutvergießen und Schaden anrichten wollen.
Es ist unklar, wann genau Boko Haram gegründet wurde. Im November 2002 wurde ein Miss-World-Wettbewerb in der Hauptstadt Abuja abgesagt, weil muslimische Jugendliche randalierten. Damals verloren rund 100 Menschen ihr Leben. Im Jahr darauf wurde Boko Haram bekannt. Grob nach dem Vorbild der Taliban in Afghanistan und Pakistan strukturiert, hat sie ihre Wurzeln in Nordnigeria. Boko Haram betrachtet alle, die nicht ihrer strikten Ideologie folgen, als Ungläubige – Christen ebenso wie Muslime.
Ursprünglich beschränkten sich die Gewalttaten der Gruppe auf Nigerias Norden. Das ist nicht mehr so. 2011 attackierte sie zum Beispiel das Polizeipräsidium und das UN-Gebäude in Abuja.
Boko Haram ist ein nigerianisches Phänomen, das unter Bedingungen entstand, die für viele afrikanische Länder typisch sind. Die nationalen Grenzen des Kontinents gehen auf die Kolonialmächte zurück und durchschneiden kulturelle und ethnische Identitäten. Nigeria hat 250 identifizierbare Stämme und mehr als 400 Dialekte. Es ist also gewissermaßen eine künstliche Nation. Die Loyalität der Menschen gilt weniger dem Staat als ihrem Clan, Stamm oder ihrer Sekte. Sie lassen sich schnell mit Identitätsfragen mobilisieren.
Dazu trägt auch die religiöse Kluft bei, die sich aus arabischer Dominanz im Norden und europäischer Dominanz im Süden ergab. Die Araber brachten den Islam, die Europäer das Christentum.
Wie vielerorts in Afrika prägten schwach entwickelte Institutionen und gierige Eliten Nigerias Regierungsführung. Ämter werden genutzt, um sich selbst und sein Patronage-Netzwerk zu bedienen. Die Vorstellung, der Nation als Ganzes zu dienen, ist nicht verbreitet. In diesem Land mit riesigen Ölreserven wurde der Staat auf groteske Weise zum Ausbeuter.
Obwohl das Land mit Rohstoffen gesegnet ist, ist die große Mehrheit der Bevölkerung bitterarm – und zwar besonders in den vorwiegend muslimischen Regionen. Trotz eines Durchschnittseinkommens von mehr als 2700 Dollar und einem durchschnittlichen BIP-Wachstum von sieben Prozent in den vergangenen Jahren leben 70 Prozent der Menschen von weniger als 1,25 Dollar am Tag. Im Norden sind 72 Prozent arm, verglichen mit 27 Prozent im Süden und 35 Prozent im Niger-Delta. Kein Zweifel – Boko Haram fügt die Religion einem bereits lange köchelnden Sud aus Klagen über Korruption, Ungerechtigkeit und die unfaire Verteilung von Wohlstand und Macht hinzu.
Die Reichweite ihrer Operationen zeigt derweil, dass Boko Haram von Regierungs- und Sicherheitskreisen unterstützt werden könnte. Zudem ist es wahrscheinlich, dass sie Verbindungen zu internationalen Terrororganisationen wie der somalischen Al-Shabab oder Al-Qaida im Islamischen Maghreb hat. Boko Haram ist mehr als ein Problem Nigerias. Diese Gruppe geht auch die Economic Community of West African States (ECOWAS), die Afrikanische Union und die gesamte internationale Gemeinschaft an.
Nigerias Regierung darf nicht nur auf Repression durch die Sicherheitskräfte setzen. Panzer auf die Straßen zu schicken und den Ausnahmezustand zu erklären, wie das Präsident Jonathan Goodluck nach den Weihnachtsanschlägen tat, mag die zornige Bevölkerung beruhigen, ist aber keine effektive Terrorismusbekämpfung. Nigeria braucht ein besseres Regierungssystem. Redlichkeit und Verlässlichkeit müssen die Norm werden. Die Regierung muss sich um soziale Themen wie Bildung, Gesundheit, Arbeitsplätze und Wohnungen kümmern – vor allem im Norden. Das Land braucht ein Programm für die beschleunigte Entwicklung der benachteiligten Regionen. Sonst bleiben Religion, Stämme und Clans die treibenden politischen Kräfte – und davon ist Boko Haram nur der destruktivste Ausdruck.