Identitäten
Wer Bolivien bewegt
„Unsere Aufgabe wird es sein, ihn gemeinsam mit den sozialen Bewegungen zu unterstützen“, twitterte Evo Morales am 2. November aus dem argentinischen Exil. Gemeint war sein Parteifreund und Ex-Wirtschaftsminister Luis Arce Catacora, der gerade mit deutlicher Mehrheit zum Präsidenten Boliviens gewählt worden war. Dieser könnte die Worte seines Vorgängers und politischen Ziehvaters allerdings auch als Drohung auffassen. Denn mit „den sozialen Bewegungen“ meint Morales zweifellos diejenigen Organisationen, die ihm, dem historischen Führer der „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS), treu ergeben sind. Inzwischen ist Luis Arce im Amt und Morales nach Bolivien zurückgekehrt.
Soziale Bewegungen und Organisationen stehen seit der Amtszeit von Morales in einem ambivalenten Verhältnis zur politischen Macht. Er wurde 2006 Präsident und musste im Oktober 2019 nach massiven Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit der Präsidentschaftswahl, bei der er sich um eine vierte Amtszeit bewarb, zurücktreten und das Land verlassen. Unter Morales diente der Bezug auf die sozialen Bewegungen zur Legitimation von Politik jenseits der Parlamente. Viele soziale Akteure verstanden sich als Teil eines Projektes, die bolivianische Gesellschaft von Grund auf zu verändern. Sie wurden vielfach einbezogen, beispielsweise 2007 in der Verfassunggebenden Versammlung. Gleichzeitig bestand eine hierarchische Beziehung: Autorität und Führungsrolle des „Compañero“ Evo durften nicht infrage gestellt werden.
Drei identitätsstiftende Elemente haben in Bolivien über Jahrzehnte die Entwicklung sozialer Bewegungen und Organisationen geprägt: zum einen klassenorientierte, gewerkschaftliche Identitäten, zum Zweiten ethnisch-kulturell begründete, indigene Identitäten und schließlich regionale Identitäten. Bewegungen und soziale Organisationen sind dabei oft ebenso wenig eindeutig zu verorten wie Individuen.
Klassenkampf und Koka-Anbau
Lange waren die organisierten Bergarbeiter die Speerspitze sozialer Proteste gegen die Regierenden. In den großen Bergwerken, die seit der Revolution 1952 verstaatlicht waren, entwickelten die „Mineros“ und auch ihre Frauen eine ausgeprägte Identität als Arbeiterklasse. Kampfbereitschaft auch mit Waffen war dabei nicht rhetorische Floskel, sondern historische Erfahrung, standen sie doch im Widerstand gegen die Diktaturen der 1970er und frühen 1980er Jahre oft in der ersten Reihe.
Ab 1985 wurden die inzwischen unrentablen Bergwerke geschlossen oder privatisiert. Viele jetzt Arbeitslose aus den Minenorten migrierten in die Tieflandprovinz Chapare nördlich der Großstadt Cochabamba, um im Anbau von Koka ein Auskommen zu finden. Führer der organisierten Kokabauern war Evo Morales.
Auch im Chapare war Kampferfahrung gefragt. Die Regierungen der 1990er Jahre arbeiteten eng mit den USA zusammen und setzten, unterstützt von US-„Beratern“, deren Antidrogenpolitik um. Der Chapare war immer wieder Schauplatz bewaffneter Auseinandersetzungen. Diese permanente Konfliktsituation verstärkte autoritäre und hierarchische Muster. Die Identität war dabei eine gewerkschaftliche. Die Neuinszenierung von Evo Morales als „Indigener“ kam erst viel später, als dieser auf dem Weg nach La Paz ins Präsidentenamt war. Im Spektrum der MAS-affinen sozialen Organisationen haben die Kokabauern bis heute eine besondere Rolle; der als zukünftiger Spitzenmann des MAS gehandelte 32-jährige Andrónico Rodríguez kommt aus ihren Reihen.
Indigenes Selbstbewusstsein
Seit den 1990er Jahren hat in Bolivien die Bedeutung kulturell-ethnisch begründeter Identitäten zugenommen. Eine wichtige Arena für die Auseinandersetzung um dieses Selbstverständnis war die 1979 gegründete Bauerngewerkschaft CSUTCB. Diese ist zwar als „gewerkschaftliche Konföderation bäuerlicher Arbeiter“ in ihrer Bezeichnung dem klassenorientierten Denken verhaftet, versteht sich aber auch ausdrücklich als Vertretung der Indigenen.
1989 verabschiedete die Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization – ILO) die Konvention 169 über die Rechte und den Schutz indigener Völker. Sie stellt bis heute den zentralen politischen Bezugsrahmen dar. Soziale Akteure, die indigene Identität in den Mittelpunkt stellen, bekamen damit internationalen Rückenwind. Er schlägt sich seitdem auch finanziell in einer Vielzahl von Projekten und Förderprogrammen nieder.
1993 wurde der Intellektuelle Víctor Hugo Cárdenas vom Volk der Aymara Vizepräsident. Die Aymara Remedios Loza war im Radio in La Paz ein Star und ging als Abgeordnete in die Politik. Sie stand symbolisch gleichermaßen als Indigene und als politisch einflussreiche Frau für eine neue gesellschaftliche Realität. Eine Entwicklung der politischen Emanzipation des nichtweißen Boliviens nahm ihren Lauf. Die Wahl von Evo Morales 2005 zum Präsidenten stellte einen weiteren Schritt dieser Entwicklung dar, war aber nicht ihr Ausgangspunkt.
Es entstanden Organisationen, die sich auf eine – gelegentlich idealisierte – vorkoloniale Vergangenheit berufen. Dies gilt zum Beispiel für die 1997 gegründete CONAMAQ, einen Verband von Dorfgemeinschaften im Hochland im Westen Boliviens, der in Abgrenzung von den „Invasoren“ sowohl im kolonialen Regime als auch in der unabhängigen Republik Selbstbestimmung und Land für die indigenen Gemeinschaften zurückfordert.
Im Tiefland vertrat schon seit 1982 der Dachverband CIDOB die Interessen von mehr als 30 indigenen Völkern des bolivianischen Ostens. Realitäten und Forderungen sind andere als im Hochland. Im Tiefland handelt es sich um zahlenmäßig kleine indigene Völker. Für sie ist geschütztes Territorium besonders wichtig, in dem sie ihren kulturellen Werten entsprechend leben können. Angesichts der jahrzehntelangen massiven Migration von Aymaras und Quechaus aus dem Hochland ins Tiefland ist das Verhältnis zwischen diesen und den Tiefland-Indigenen konfliktbeladen.
CONAMAQ und CIDOB gehörten lange zu einem Bündnis indigener Organisationen, die Evo Morales unterstützten. 2011 jedoch kam es zum Bruch. Die Regierung wollte eine Straße durch ein indigenes Territorium bauen. Beide Organisationen solidarisierten sich mit den Betroffenen. In der Folgezeit betrieb die Regierung die Spaltung und Schwächung von CONAMAQ und CIDOB. Der MAS duldete kein Ausscheren aus dem Lager unter seiner Führung.
Regionale Identität
Regionale Identitäten spielen in erster Linie im östlichen Tiefland mit Santa Cruz de la Sierra, der größten und wirtschaftlich bedeutendsten Stadt des Landes, eine Rolle. Ein Akteur wie das „Comité pro Santa Cruz“ erscheint üblicherweise nicht in der Betrachtung von sozialen Bewegungen. Dort ist die lokale Elite versammelt, die wirtschaftliche und politische Interessen verhandelt. Politische Karrieren nehmen hier ihren Anfang, so auch die von Luis Fernando Camacho, dem Rechtsaußen unter den aussichtsreichen Kandidaten bei der Wahl am 18. Oktober 2020. Er gewann in Santa Cruz mit 45 Prozent, in La Paz landete er gerade einmal bei 0,72 Prozent.
Vereinigungen wie das „Comité“ sind keineswegs reine Kungelrunden der Oberschicht, sie verfügen über hohes Mobilisierungspotenzial. Viele Einwohner von Santa Cruz fühlen sich in der nationalen Politik ebenso wie in Boliviens Bild nach außen nicht angemessen vertreten. Auch darin liegt ein – wenn auch politisch ganz anders gelagertes – Bewegungspotenzial. Evo Morales und sein Vizepräsident García Linera schlossen deshalb mit dem Unternehmerlager aus Santa Cruz einen Deal: Letztere verzichteten darauf, zu mobilisieren und die Regierung zu blockieren. Dafür ließen die Machthaber in La Paz sie in Ruhe ihre Geschäfte weiterführen und sorgten für Stabilität. Es gab keine Enteignungen und keinen Klassenkampf in Santa Cruz.
Mit dem MAS kehrt nach einem Jahr die Partei an die Macht zurück, die 14 Jahre lang soziale Organisationen und Bewegungen einband, diskursiv stärkte, aber eben auch dominierte. Wahrscheinlich wird Präsident Arce nicht bruchlos daran anknüpfen können. Ihm fehlen das Charisma und die Autorität von Evo Morales. Überdies ist dessen zukünftige Rolle noch unklar.
Es ist eine gute Nachricht, dass die bolivianische Gesellschaft keine Voraussetzungen dafür bietet, eine über Jahrzehnte stabile Hegemonie mit Kooptation aller relevanten sozialen Akteure aufzubauen. Das hatte schon die Partei der Revolution von 1952, der MNR, ohne Erfolg versucht. Das Spektrum sozialer Organisationen ist extrem fragmentiert entlang der beschriebenen Identitäten und der von Ort zu Ort sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Eine derartige historisch gewachsene Bewegungskultur macht politische Prozesse gelegentlich mühsam. Aber sicher ist: Es gibt keinen Stillstand. Bolivien wird bewegt.
Ulrich Goedeking ist Soziologe und entwicklungspolitischer Berater.
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