Entwicklung und
Zusammenarbeit

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„Entwicklung“

Falsche Versprechen, fragwürdiger Begriff

Westliche Entwicklungsversprechen sind widersprüchlich und unerfüllbar. „Entwicklung“ ist ein Begriff, der koloniales Herrschafts- und Überlegenheitsdenken fortschreibt. Von Technokraten ersonnene Entwicklungsstrategien entsprechen oft nicht der Lebenswirklichkeit der Menschen, deren Situation sie verbessern sollen.
US-Präsident Harry Truman (rechts) erklärte „Entwicklung“ der „unterentwickelten Länder“ im Kalten Krieg zum Ziel der Außenpolitik: Staatsbesuch des indischen Premiers Jawaharlal Nehru 1949 in Washington. picture-alliance/Photo12/Ann Ronan Picture Library US-Präsident Harry Truman (rechts) erklärte „Entwicklung“ der „unterentwickelten Länder“ im Kalten Krieg zum Ziel der Außenpolitik: Staatsbesuch des indischen Premiers Jawaharlal Nehru 1949 in Washington.

Ursprünglich kommt der Begriff „Entwicklung“ aus der Biologie und beschreibt evolutionäre Prozesse. Die Entwicklungspolitik wendet ihn auf gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Umstände an. Dabei wird „Entwicklung“ als linearer Reifeprozess zur Erreichung eines Idealzustands verstanden. Diese normative Bedeutung hat er, seit US-Präsident Harry Truman 1949 die „Entwicklung“ der „Unterentwickelten“ als zentrales Ziel der Außenpolitik benannte.

Wer einen Begriff kritisieren will, braucht eine eindeutige Definition. Da fangen die Probleme schon an. Denn in den vergangenen 70 Jahren wurde der Entwicklungsbegriff mit unterschiedlichen, manchmal widersprüchlichen Bedeutungen gefüllt.

Der Reigen reicht von Modernisierungs- und Strukturanpassungsprogrammen und ihrem Fokus auf Industrialisierung und Wirtschaftswachstum über die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse (Grundbedürfnisstrategie) und Armutsreduktion (Millennium Development Goals – MDGs) bis hin zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs). Die SDGs proklamieren „Entwicklung“ global und nehmen auch die Industrieländer in den Blick: alle Staaten

müssen sich demnach weiterentwickeln und sollen in ihrem jeweils spezifischen Kontext zur Erreichung der globalen Ziele beitragen. Stets jedoch beschrieb der Entwicklungsbegriff Defizite und verordnete Interventionen.


Koloniale Prägungen

Folgende Aspekte kennzeichnen den Diskurs:

  1. „Entwicklung“ gilt als normativ gut und universell erstrebenswert. Der Begriff verheißt Wohlstand und Konsum nach westlichem Vorbild. Dabei wird ausgeblendet, dass Entwicklungsprojekte oft negative Folgen für die Betroffenen haben. Selbst gutgemeinte Interventionen schwächen oft soziale Gefüge und lokale Wirtschaftsstrukturen. Dadurch entstehen Abhängigkeiten und Verwundbarkeit. Infrastrukturprojekte wie Staudämme haben beispielsweise Vertreibung, Umsiedlung und Entzug der Lebensgrundlage zur Folge. Nach Schätzungen verlieren hierdurch jährlich etwa 10 Millionen Menschen ihre Heimat – im Namen der „Entwicklung“ (vgl. Peripherie Nr. 154/155, siehe hierzu auch Beitrag von Korinna Horta im Schwerpunkt des E+Z/D+C e-Paper 2020/09).
  2. Im Entwicklungsapparat verfügen nur Personen mit westlicher Bildung über legitimes Expertenwissen. Lokales und indigenes Wissen zählt meist nichts. Allerdings haben die Angestellten des Entwicklungsapparats selbst oft nur vage Vorstellungen von der Wirklichkeit der Gesellschaften, in die sie eingreifen. Typischerweise beherrschen sie nicht einmal die Sprache der Einheimischen.
  3. Entwicklungspolitisches Handeln ist folglich typischerweise ein Eingriff in als fremd definierte Gesellschaften und Kulturen. Das Versprechen auf „Entwicklung“ lässt die Eingriffe nötig und sogar moralisch geboten erscheinen. Das Problem globaler Ungleichheit wird dabei so dargestellt, als ob technische Projekte und unpolitische Programme es beheben könnten. Aus dem Blick geraten dabei Machtverhältnisse in einem Land – wie etwa die Landverteilung – und weltweit im globalen Kapitalismus.
  4. Als Idealzustand gilt der Lebensstandard des Westens. Andere Gesellschaften gelten ihm gegenüber als rückständig, womit die koloniale Denkweise fortbesteht. Indikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt oder der Human Development Index der UN unterstellen, „gutes Leben“ sei messbar. Aspekte wie Gastfreundschaft, Rassismus oder eine imperiale Produktions- und Konsumweise, die auf billige Arbeit und Rohstoffe aus anderen Ländern angewiesen ist, werden nicht erfasst.

Den Entwicklungsdiskurs prägt ein eurozentrischer Paternalismus. Entwicklungsrhetorik ist vielfach von kolonialen Sichtweisen und Herrschaftsverständnissen geprägt. Die kritische Wissenschaft stellt deshalb das ganze Narrativ mit Europa im Zentrum in Frage. Die Forschung beweist, dass die gegenwärtige globalisierte Weltordnung historisch auf Kolonialismus, Imperialismus und Sklaverei beruht. Festzuhalten ist selbstverständlich auch, dass viele Entwicklungsprojekte so konzipiert werden, dass sie den Interessen der Geldgeber im globalen Norden entsprechen.


Nachhaltige Entwicklung

Die Schere zwischen Arm und Reich wird jährlich größer – und zwar trotz Erfolgen, etwa im Bereich der Alphabetisierung oder Müttersterblichkeit. Auch wird angesichts der Klimakrise immer deutlicher, dass selbst in westlichen Ländern die heutige Konsumgesellschaft alles andere als nachhaltig ist. Je mehr Länder dieses Modell kopieren, umso weniger ist globale Nachhaltigkeit überhaupt denkbar.

Die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) beanspruchen, den Wechselwirkungen zwischen Mensch, Gesellschaft, Natur und Umwelt gerecht zu werden. Sie scheitern allerdings an Widersprüchen. Das Wachstumsziel von SDG 8 ist mit weltweiter Nachhaltigkeit schlicht unvereinbar. Dennoch zielt die europäische Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik auf ökonomisch verstandenen Erfolg ab. Solange das Wachstumsparadigma gültig bleibt, kann „Entwicklung“ nicht zu Nachhaltigkeit führen. Schlimmer noch, sie legitimiert dann den Raubbau an der Natur.

Alternativen zum westlichen Lebens- und Wirtschaftsmodell existieren jedoch. Eine von Ashish Kothari und anderen (2019) herausgegebene Essaysammlung „Pluriverse – A Post-Development Dictionary“ (Kothari et al, 2019) stellt eine Vielzahl von Weltanschauungen aus verschiedenen Teilen der Welt vor. Sie haben grundlegende Gemeinsamkeiten hinsichtlich dessen, was sie für ein „gutes Leben“ halten: zwischenmenschliche Solidarität statt permanentem Wettbewerb, Verbundenheit von Mensch und Natur, Selbstbestimmung von Gemeinschaften und Gesellschaften. Alle kritisieren die Übernutzung von Ressourcen und den unkritischen Glauben an Fortschritt und Wachstum, also die Fehlentwicklungen, die unser geologisches Zeitalter zum vom Menschen bestimmten „Anthropozän“ machen.


Alternativen zur „Entwicklung“

Wenn das Ziel von „Entwicklung“ jemals die Überwindung von Armut und globaler Ungleichheit war, so sind Vision und Praxis grandios gescheitert. Was nun notwendig ist, ist ein radikaler Wandel, der historisch bedingte Ursachen globaler Ungleichheit in den Blick nimmt. Lösungsansätze müssen systemischer und struktureller Art sein. Gurminder K. Bhambra (2014, 119), Professorin für Postkoloniale Studien an der University of Sussex, bringt es auf den Punkt, wenn sie schreibt: „Die untrennbare Verflechtung der Rhetorik der Moderne (Fortschritt, Entwicklung, Wachstum) und der Logik der Kolonialität (Armut, Elend, Ungleichheit) muss im Mittelpunkt jeder Diskussion über die gegenwärtigen globalen Ungleichheiten stehen.“

Ein Fokus auf globale strukturelle Ungleichheiten setzt Veränderungen im globalen Norden voraus. Das aktuelle Konsumniveau und der bestehende Hegemonieanspruch verstetigen Ungerechtigkeiten. Koloniale Kontinuitäten sind eine zentrale Ursache der Machtasymmetrie von Nord und Süd. Konkrete Ansätze für eine fairere globale Ökonomie hat beispielsweise Jason Hickel (2017) formuliert (siehe Sabine Balk in Schwerpunkt von E+Z/D+C e-Paper 2018/11). Dazu gehören die Demokratisierung der globalen Finanzinstitutionen (Weltbank, IWF), globale Steuergerechtigkeit und -transparenz, fairer Handel und faire Löhne, Schuldenerlass für hochverschuldete Länder sowie eine armenfreundliche Neuregulierung von Pharma- und Agrarpatenten.

Eine Reform oder Erweiterung des Begriffs „Entwicklung“, wie im Fall nachhaltiger Entwicklung, greift zu kurz, solange unsere Welt von Konkurrenz und Überlegenheitsdenken geprägt ist. Um globale Ungleichheit zu überwinden, müssen Gerechtigkeit und Solidarität zu Leitbegriffen werden.


Literatur

Bhambra, G.K., 2014: Postcolonial and decolonial dialogues. In: Postcolonial Studies, Vol. 17, Issue 2, pages 115–121.
Hickel, J., 2017: The divide. A brief guide to global inequality and its solutions. London, Penguin Random House.
Kothari, A., et al., Hg., 2019: Pluriverse – A post-development dictionary. New Delhi, Authors UpFront.
Peripherie, 2019: Vertreibung durch Entwicklungsprojekte. Heft Nr. 154/155, 39. Jg. 2019.


Aram Ziai ist Professor für Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Universität Kassel.
ziai@uni-kassel.de

Julia Schöneberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Theorizing Post-Development“ an der Universität Kassel.
julia.schoeneberg@uni-kassel.de