Kommentar

Menschenrechtlich fatal

UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hält Binnenvertreibung für die heute wohl größte humanitäre Herausforderung. Laut UN-Angaben mussten rund 77 Millionen Menschen, etwa ein Prozent der Weltbevölkerung, ihre Heimatregion verlassen und anderswo im eigenen Land Zuflucht suchen. Jeweils ein Drittel musste bewaffneten Konflikten, Naturkatastrophen und Großprojekten weichen. Zum Vergleich: Weltweit sind nur 16 Millionen Menschen in andere Länder umgesiedelt. Das Beispiel Kolumbien veranschaulicht die Problematik der Binnenvertreibung, das nur selten durch aktuelle, internationale Krisen in die Schlagzeilen kommt.


[ Von Peter Strack ]

Geschätzte vier Millionen Binnenvertriebene gibt es allein in Kolumbien – nach dem Sudan ist dies das am stärksten betroffene Land. Staatliche Programme haben deren Versorgung quantitativ verbessert: 79 Prozent haben Zugang zu gesundheitlicher Grundversorgung, acht von zehn Kindern gehen zur Schule. Dennoch leben nur zwei Prozent der Vertriebenen in dem südamerikanischen Land über der Armutsgrenze, und nur ein Viertel über dem Existenzminimum.

Viele Binnenvertriebene werden staatlich gar nicht erfasst – auch, weil sie Angst vor bewaffneten Gruppen haben. Etliche sind geflohen, um ihre Kinder vor Zwangsrekrutierung durch die Guerilla zu schützen. Aber auch die angeblich aufgelösten Paramilitärs haben vielerorts neue Strukturen aufgebaut. Immer wieder werden Fälle bekannt, wo staatliche Stellen mit paramilitärischen Todesschwadronen zusammenarbeiten. Allein im ersten Halbjahr 2008 wurden 255 Vertriebenensprecher bedroht. Sieben von ihnen wurden, wie die regierungsunabhängige Organisation CODHES berichtet, ermordet, weil sie sich vor Gericht für ihre Rechte eingesetzt hatten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat auf Staatsbesuch in Kolumbien die Sicherheit für deutsche Investoren gelobt – für die Vertriebenen im eigenen Land dagegen existiert keine Rechtssicherheit. Im Gegenteil: 1997 vertrieben Paramilitärs und staatliche Armee 3000 afro-kolumbianische Bauern von den Nebenflüssen des Atrato. Auf ihrem Land stehen heute Bananen- oder Palmölplantagen – vom Militär bewacht oder von Paramilitärs kontrolliert. Agrartreibstoffe sind gefragt: Von 2006 auf 2007 steigerte Kolumbien den Export von pflanzlichen Ölen und Fetten nach Deutschland um das Neunfache.

Die Bauern sind bis zum Interamerikanischen Gerichtshof gegangen. Als die ko­lumbianische Justiz das Verfahren gegen den verantwortlichen General Rito Alejo del Rio wiederaufnahm, wurden sie erneut bedroht und angegriffen. Ohnehin kommt es nur in einem Prozent der Vertreibungsfälle überhaupt zum Verfahren. 73 Prozent haben Land und Besitz zu­rück­­gelassen, 82 Prozent von ihnen wissen nicht, dass sie Recht auf umfassende Reparation haben. Auch die hohe Straflosigkeit führt dazu, dass allein in den ersten sechs Monaten des vergangenen Jahres in Kolumbien erneut 271 000 Menschen gewaltsam vertrieben wurden, 41 Prozent mehr als 2007.

Auch für Kolumbien gilt, was der Schweizer Juraprofessor Walter Kälin, der als Sonderbeauftragter für Binnenvertriebene Ban Ki-moon zur Seite steht, zum Einsatz der Bundesregierung für Vertriebene allgemein sagt: Die humanitäre Hilfe für die Opfer von Vertreibungen sei zu begrüßen, nötig sei aber auch verstärktes politisches Engagement. Etwa zur Stärkung ihrer Rechte auf internationaler Ebene. Dass das möglich ist, haben die USA gezeigt: Ein Gericht verurteilte Chiquita wegen Waffenlieferungen und Geldzahlungen an Paramilitärs. Ein Jahr später kündigte der Konzern Del Monte Lieferverträge mit Unternehmen, die nachweislich enge Verbindungen zu Paramilitärs hatten.

In Kolumbien werden die Rechte der Bauern aber nicht gestärkt, sondern beschnitten – zugunsten von Großinvestoren. Gerade hat die Europäische Union beschlossen, isoliert mit Kolumbien über ein Freihandelsabkommen zu verhandeln, statt – wie Bolivien und Ecuador fordern – im Rahmen des Andenpaktes auch soziale und politische Fragen einzubeziehen. Das ist nicht nur ein falsches Signal. Es ist eine menschenrechtlich fatale Politik.