Europa
Fragwürdige Inklusion, inakzeptable Exklusion
[ Von Werner Menski ]
Es ist bekannt, dass Migranten nicht einfach ihren alten Lebensstil – inklusive Religion – ablegen, wenn sie in Europa ankommen. Sie bauen sich vielmehr ein neues Leben nach eigenen Maßstäben auf. Migranten und ihre Nachfahren haben – im Sprachgebrauch pluralitätsbewusster Rechtstheoretiker – ein „living law“ entwickelt, also „lebendiges“ und „gelebtes“ Recht. Es geht um grenzüberschreitende Regeln, die Angehörige derselben Gemeinschaft als Individuen befolgen. Europäische Beamte aber lehnen „living law“ als gesetzeswidrig ab und sanktionieren diejenigen, die es befolgen. Das Resultat ist Diskriminierung und der Verlust von Grundrechten.
Wir empören uns regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen in Asien oder Afrika. Aber wer die Situation ethnischer Minderheiten in Europa genau untersucht, stößt auf ähnlich beunruhigende Zustände. Es herrscht systematische Unverantwortlichkeit verbunden mit einer Kultur der Straflosigkeit.
In Britannien fordert die Politik seit geraumer Zeit die „Inklusion“ von Migranten, nachdem man sich jahrzehntelang im Multikulturalismus zurechtzufinden suchte. Die neue Linie geht einher mit schweren Menschenrechtsverletzungen, die aber nicht auf Einbeziehung, sondern auf Ausgrenzung hinauslaufen. So dient etwa der neue Begriff „vulnerable adult“ (verwundbarer Erwachsener) kaum dazu, individuelle Menschenrechte zu schützen, obwohl das gern betont wird. Mit dem Begriff werden vielmehr Familien mit Zuwanderungsgeschichte terrorisiert. Eindeutig gültige Ehen werden nach englischem Recht für ungültig erklärt – und Kinder ihren Eltern entrissen. Das internationale Privatrecht wird dabei gebrochen.
Der folgende Fall illustriert das Problem: Ein junger Bangladescher, der in London lebt und unter Autismus leidet, stimmte auf Geheiß seiner Eltern per Telefon der Hochzeit mit einer Cousine in Bangladesch zu. Das ist sowohl nach Scharia-Recht als auch nach den Gesetzen Bangladeschs rechtskräftig. Folglich gilt diese Ehe grundsätzlich auch nach internationalem Privatrecht. Dennoch erkannte der Rat der City of Westminster sie nicht an. Es war unerheblich, dass die junge Frau zugestimmt hatte und belegt war, dass ihr klar war, dass die Ehe für sie die Pflege ihres schutzbedürftigen Mannes sowie zu einem späteren Zeitpunkt auch seiner Eltern bedeuten würde.
Das Berufungsgericht in London akzeptierte schließlich, dass die Ehe nach muslimischem und bangladeschischem Zivilrecht gültig ist, verweigerte aber die Anerkennung nach englischem Recht (Westminster City Council v. IC, [2007] EWHC 3096 (Fam) und [2008] EWCA Civ 198). Der Fall ist nun beim House of Lords anhängig. Die Familie hat angedeutet, sie sei bereit, nach Bangladesch umzuziehen, aber der junge autistische Mann bekommt seinen Reisepass nicht von den Behörden zurück. Die Beamten fürchten, dass dieser „vulnerable adult“ mit seiner Ehefrau zurückkehrt – und zwar nach einer dann auch nach englischem Recht eindeutig gültigen Hochzeit.
Dass sie vor Gericht gezerrt wurden, bedeutet für diese Familie, die sich um ein schwerbehindertes Mitglied kümmern muss, einen teuren, mühsamen Kampf. Es ist kein Wunder, dass die meisten Betroffenen sich in schwierigen Lagen weder an die Justiz noch an britische Behörden wenden, sondern andere Lösungen suchen. Deshalb hatte die genannte Familie ja auch versucht, die Ehe per Telefon abzuschließen. Menschen, die die Landessprache nicht muttersprachlich beherrschen, tun sich besonders schwer, der Justiz zu vertrauen. Oft kommt es zu zwielichtigen außergerichtlichen Einigungen. Das heißt aber auch, dass die Öffentlichkeit gar nicht vom ganzen Ausmaß dieser Probleme erfährt.
Manchmal werden Kinder ihren Familien entrissen und Pflegeeltern anvertraut, weil Vorwürfe wie Kindesmisshandlung, Verwahrlosung oder „Zwangsheirat“ erhoben wurden. Familienrecht ist heute für britische Anwälte ein Wachstumsgeschäft – aber die Gesellschaft wird dadurch nicht integrationsfähiger. Was „im besten Interesse des Kindes“ ist, hängt von kulturellen Werten ab und lässt sich nicht einfach auf andere Menschen übertragen.
Ortsüblich und kulturell akzeptiert
Auch Scheidungen sind umstritten. So werden in Britannien viele ortsübliche und kulturell akzeptierte informelle Scheidungen in Indien und Pakistan nicht anerkannt. Ähnlich informelle Scheidungen in Japan werden dagegen ohne viel Aufhebens akzeptiert.
Listige Kläger versuchen zuweilen, englische Richter zu verwirren. Sie nutzen komplizierte Fälle, um sich unfaire Vorteile zu verschaffen. Sie haben leichtes Spiel, falls nicht ein kompetenter Rechtsexperte den Beschuldigten zu Hilfe kommt. Meist sind Frauen die Opfer, denen zum Beispiel plötzlich erklärt wird, sie seien nach englischem Recht immer noch verheiratet, nachdem sie im Ausland geschieden wurden. Umgekehrt verklagen gerissene Exfrauen ihre ehemaligen muslimischen Ehemänner und behaupten, ihre Scheidung im Ausland sei ungültig, so dass sie Anrecht auf eine englische Scheidung mit Unterhaltszahlungen hätten.
Solche Fälle zeigen, wie schwer sich britische Richter mit dem internationalen Privatrecht tun – und die Materie ist wirklich sehr kompliziert. Aber einschlägigen Experten wird mit Misstrauen begegnet, weil man sie für Sprachrohre des Fundamentalismus hält. Lippenbekenntnisse zur angeblich kulturblinden Rechtsauslegung blockieren die nötige Anerkennung des Wertepluralismus im multikulturellen Europa. Das führt zu Ungerechtigkeit und irrationalen Unterscheidungen.
Heutzutage stehen Staaten überall unter Druck, „living law“ und „ethnisches“ Recht zu berücksichtigen. Aber Durchschnittsjuristen können solche Konflikte oft gar nicht beurteilen. Die Folgen sind für Betroffene hart. So heiratete 1956 ein junges Sikh-Paar mit einer Zeremonie in einem Sikh-Tempel („Gurudwara“) in London, kannte das englische Melderecht aber nicht. Das Paar ließ seine Ehe nie registrieren, bezahlte aber jahrelang den Steuersatz für Verheiratete.
Als der Ehemann rund 40 Jahre später starb, beantragte seine Frau ihre Witwenrente – ohne Erfolg. Der britische Staat, der ihre Heirat für Steuerzwecke anerkannt hatte, lehnte das für Rentenzwecke ab. Die tapfere Sikh-Witwe prozessierte hartnäckig jahrelang, um ihren Rentenanspruch und die juristische Anerkennung einer Heiratsvermutung vor dem Berufungsgericht durchzusetzen (Chief Adjudication Officer v. Kirpal Kaur Bath, [2000] 1 Family Law Reports 8 [CA]).
Menschen in ähnlicher Lage können sich aber nicht auf diesen Präzedenzfall berufen. Britische Beamte erkennen nämlich nicht die Zeremonien aller Religionen als Basis einer Ehe an. Das ist irrational und diskriminierend gegen fremde Kulturen. So erkannte ein Richter etwa die unregistrierte Heirat eines koptisch-christlichen Paares in einer freien orthodoxen Kirche in London in den 1990er Jahren für Sozialhilfezwecke durchaus an, weil die Hochzeit „die Kennzeichen einer christlichen Eheschließung“ trug (Gereis v. Yagoub, [1997] 1 FLR 854). Dagegen gelten muslimische „nikah“-Hochzeiten in England formaljuristisch als nicht anerkannt. Eine Hindu-Heirat in einem Restaurant galt als „überhaupt keine Hochzeit“, obwohl alle religiösen Rituale stattgefunden hatten und ein Kind aus der Ehe hervorging (Gandhi v. Patel [2002] 1 FLR 603].
Besonders schroff gehen britische Behörden mit Ehen um, bei denen ein Partner vor der Hochzeit keine dauerhafte Aufenthaltsberechtigung hatte. Das Berufungsgericht nannte dies schließlich unangemessen und diskriminierend, weil Paare, die nicht nach anglikanischem Ritus heiraten können, benachteiligt werden (SSHD v. Baiai and others [2007] EWCA Civ 478).
Scharia-Gerichte in Großbritannien
Das Scheidungsrecht ethnischer Minderheiten bereitet Britannien besondere Probleme. Früher wurde die muslimische „talaq“-Prozedur in London rechtlich anerkannt, und die Ehefrau hatte entsprechend finanzielle Ansprüche auf Erstattung der Mitgift „mahr“ (Qureshi v. Qureshi [1971] 1 AllER 325). Aber seit dem Familienstandsgesetz von 1986 erkennt das englische Recht muslimische Scheidungen im Vereinigten Königreich ebenso wie informelle Scheidungen im Ausland nicht mehr an.
In rechtlicher Not haben Muslime Scharia-Räte eingerichtet. Mittlerweile haben Schiedsgerichte begonnen, alle Arten von Streitigkeiten zwischen Muslimen zu klären. Sie stehen auch Nichtmuslimen offen – als billiger und schneller Weg außergerichtlicher Schlichtung. Eine muslimische Frau, der ein englisches Gericht im Jahr 2000 ihren „mahr“-Anspruch in Höhe von 30 001 Pfund verweigern wollte, wurde mit 30 000 Pfund bedacht, als der Richter erfuhr, dass sie sonst einen Scharia-Rat anrufen würde.
Das Beispiel zeigt, dass die klare Trennung von staatlichem Recht und nichtstaatlichen Konventionen grundsätzlich problematisch ist. Der Erzbischof von Canterbury sorgte voriges Jahr für Aufruhr, als er sagte, Britannien brauche eine formaljuristische Anerkennung der Scharia. In der Tat weisen pluralistische Rechtsperspektiven darauf hin, dass britisch-islamisches Recht, ich nenne es „angrezi shariat“, längst Realität ist, die allerdings noch kaum erforscht ist und zutiefst abgelehnt wird.
Wissenschaftler sollten ihre eurozentrischen Scheuklappen ablegen. Wir müssen begreifen, dass die derzeitige Praxis ungerecht und willkürlich ist. Solange wir das nicht tun, wird es nicht gelingen, mit heiklen und verzweifelten Manövern einzelner Migranten und fragwürdiger Organisationen fertig zu werden, die versuchen, Raum für ihre Bedürfnisse zu schaffen sowie ihre Kultur und Religion zu schützen.
Mit Blick auf muslimische Schiedsgerichte steigt die Nervosität im britischen Königreich. Aber seit dem 11. September 2001 hat das Parlament still und heimlich Gesetze über das islamische Finanzwesen, Scheidungen und „spezielle Vormundschaften“ verabschiedet. Die Öffentlichkeit wurde nicht informiert, aber es ist klar, dass der Staat weiß, was er tut. Er will dem nervösen Wahlvolk nicht eingestehen, dass multikultureller Rechtspluralismus bereits Realität ist und das geltende Recht sich daran anpassen muss.
Beamte lehnen die fortschreitende Globalisierung nationaler Rechtsmuster latent ab. Das führt zu befremdlichen Fehlern, die Analyse, Aufmerksamkeit und Widerstand erfordern. Zum Beispiel musste eine hochqualifizierte Jurastudentin Anfang 2009 in London erleben, dass die Regulierungsbehörde für Rechtsanwälte ihre Studien in asiatischem und afrikanischem Recht nicht als vollwertigen Bestandteil ihres universitären Curriculums anerkennen wollte. Dieser Fall erwies sich letztlich eher als Beispiel von bürokratischer Inkompetenz als von rassistischer Diskriminierung – aber für persönlich Betroffene ist dieser Unterschied sehr klein.
Ich habe erlebt, dass gute Studenten aus Migrantenfamilien das Semester abbrachen oder Prüfungen vorzeitig verließen, weil sie Schikanen gegen sich selbst oder Familienmitglieder erlebten. Die Leichtigkeit, mit der engstirnige Beamte in unserer globalisierten Welt noch immer Ausgrenzung rechtfertigen, zeigt die Probleme auf, die Diversität der bürokratischen Verwaltung macht. Es gibt offenbar noch viel zu lernen, bis afrikanische und asiatische Rechtsvorstellungen im postmodernen Europa des 21. Jahrhunderts akzeptiert werden.