Kinderrechte
Bolivien beugt sich internationalem Druck
Boliviens Kinder- und Jugendgesetz versprach neue Wege im Umgang mit Kinderarbeit. Es beschränkte sich nicht länger auf ein Verbot, sondern enthielt Bestimmungen, um den Schutz von Kindern, die arbeiten wollen oder aufgrund einer sozialen Notlage dazu gezwungen sind, zu verbessern und ihnen eine Arbeit in Würde zu ermöglichen. Im Sinne des ganzheitlichen Ansatzes der UN-Kinderrechtskonvention sollten dabei auch andere Rechte – etwa auf Bildung, Gesundheit und Erholung – gewahrt werden. Mittels Kinderschutzkommissionen und der Selbstorganisation in Kinderkomitees sollte die Stellung der Kinder in der Gesellschaft gestärkt werden. Das Gesetz war auch insofern ein Pionierwerk, als dass es trotz vieler Widerstände unter aktiver Beteiligung arbeitender Kinder ausgearbeitet worden war. Zudem setzte es Vorgaben um, die in der bolivianischen Verfassung verankert sind.
Das Gesetz löste international kontroverse Debatten aus. Während es von arbeitenden Kindern in Bolivien und anderen Ländern enthusiastisch gefeiert und von manchen Kinderrechts-NGOs als wegweisend begrüßt wurde, protestierte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), weil es ILO-Konventionen zur Kinderarbeit verletze. Im Juni 2015 forderte die ILO ultimativ, das Gesetz zu ändern. Die bolivianische Regierung wies diese Forderung mit dem Hinweis auf kulturelle Traditionen und die eigene Verfassung zurück. Diese untersagt ausdrücklich „jede Form von Gewalt gegen Kinder, in der Familie ebenso wie in der Gesellschaft“, verbietet Kinderarbeit aber nicht pauschal. „Zwangsarbeit und Ausbeutung von Kindern“ sind untersagt. Dagegen seien „Aktivitäten, die Kinder im familiären und sozialen Rahmen ausüben, dazu geeignet, Bürgerinnen und Bürger heranzubilden, sie haben eine bildende Funktion.“
Die Paragraphen des Kinder- und Jugendgesetzes zum Thema Kinderarbeit hatten sich an diesen Bestimmungen der Verfassung orientiert, waren allerdings auch ein Kompromiss zwischen den artikulierten Interessen, praktischen Bedürfnissen und der Lebenswirklichkeit arbeitender Kinder einerseits und den Forderungen internationaler Organisationen, Geldgeber sowie des Bolivianischen Gewerkschaftsbundes und des Unternehmerverbandes andererseits. Um den Vereinbarungen zu genügen, die vorherige Regierungen mit der ILO getroffen hatten, wurde das Mindestalter für die Ausübung einer Erwerbsarbeit generell auf 14 Jahre festgelegt und die Arbeitserlaubnis für jüngere Kinder (je nach Art der Arbeit ab zehn oder 12 Jahren) als Ausnahme definiert. Die Erteilung dieser Erlaubnis, die die Respektierung aller Kinderrechte, die Zustimmung der Eltern und den freien Willen der Kinder voraussetzte, wurde an komplizierte bürokratische Prozesse geknüpft.
Nun änderten Parlament und Senat das Gesetz in entscheidender Weise gemäß den Vorgaben der ILO – ohne öffentliche Diskussion und ohne die arbeitenden Kinder und die Organisationen und lokalen Regierungsstellen, die sich für die Umsetzung des Gesetzes engagiert hatten, zu konsultieren. Am 20. Dezember 2018 unterzeichnete Präsident Morales die Änderung. Alle gesetzlichen Schutzmechanismen für die Arbeit von Kindern unter 14 Jahren wurden ersatzlos gestrichen, was einem allgemeinen Verbot gleichkommt. Die Regelungen des Gesetzes und arbeitsrechtliche Garantien beschränken sich nun auf Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren. Für die jüngeren Kinder bleibt nur die Ankündigung übrig, die Schulpflicht und das Arbeitsverbot durchzusetzen und sich auf mehr Sensibilität der Behörden für ihren Schutz zu verlassen.
Die „Sensibilisierung“ besteht nun darin, dass unter dem regierungsoffiziellen Hashtag „#YoPorLaNiñez“ (#IchfürdieKindheit) und dem Motto „Schutz vor Gewalt“ Parolen gegen Kinderarbeit verbreitet werden, gesponsert von UNICEF und der staatlichen Firma Teleférica, die eine Seilbahn in der Hauptstadt La Paz betreibt. Auf den Kabinen der Seilbahn und an anderen Orten der Stadt wird die Arbeit der Kinder auf suggestive Weise mit Vernachlässigung und sexueller Gewalt in Verbindung gebracht: „Recht auf Schutz vor Vernachlässigung und Kinderarbeit“ oder „Gegen sexuelle Gewalt und Kinderarbeit“.
Der Vizepräsident Boliviens, Álvaro García Linera, hatte die vorgesehene Gesetzesänderung in einer Rede am 1. Dezember damit gerechtfertigt, dass die US-Regierung damit gedroht habe, Bolivien von der Liste der Länder zu streichen, die für Exporte in die USA Zollvorteile genießen. Eine ähnliche Drohung für die EU hatten vor drei Jahren schon Abgeordnete des Europäischen Parlaments ausgesprochen, ohne allerdings im Parlament einen entsprechenden Beschluss zu erreichen. Auf Einladung von Abgeordneten waren Delegierte der lateinamerikanischen Bewegung arbeitender Kinder (MOLACNATS) und der Union arbeitender Kinder Boliviens (UNATSBO) damals nach Brüssel gereist, um das Gesetz zu verteidigen. Bei dem nun erfolgten Beschluss des bolivianischen Gesetzgebers spielten ihre Argumente allerdings keine Rolle. Mit keinem Wort wurde vor der Beschlussfassung auf die Situation der arbeitenden Kinder Boliviens und die bisherigen Erfahrungen mit dem Gesetz eingegangen. Formal wurde die Gesetzesänderung damit begründet, dass das bolivianische Verfassungsgericht die nun geänderten Artikel als unvereinbar mit einer ILO-Konvention zur Kinderarbeit erklärt hatte.
Das bisherige Gesetz war nicht frei von Mängeln, und die Zentralregierung hatte sich nur verhalten für seine Umsetzung eingesetzt. Notwendige Mittel für die Umsetzung der Schutzmechanismen stellte sie nie zur Verfügung. Um Kindern und Jugendlichen eine Arbeit zu ermöglichen, die ihre Rechte wahrt und ihren Schutz und ihre Menschenwürde gewährleistet, waren in dem Gesetz bürokratische Prozeduren vorgeschrieben, die in der Praxis nur schwer zu erfüllen waren. Auf einer Tagung der kommunalen Kinderrechtsbüros im November 2018 war deshalb gefordert worden, den aufwändigen Genehmigungsprozess für die Erwerbstätigkeit von Kindern und Jugendlichen zu streichen. Nur in Ausnahmefällen war es in den vergangenen Jahren zu einer Genehmigung gekommen. Und die dafür nötige Zeit fehlte den Kinderrechtsbüros, um sich um den wirklichen Schutz der Kinder zu kümmern. Bei den Jugendlichen hatte das Gesetz häufig den Effekt, dass Unternehmen aufgrund der bürokratischen Hürden lieber auf Erwachsene zurückgriffen, so dass nur eine Arbeit im gesetzlich ungesicherten informellen Sektor übrig blieb.
Trotz alldem hatten zahlreiche Organisationen und Personen in einzelnen Provinzen daran gearbeitet, die bürokratischen Hürden zu überwinden, und sich gemeinsam mit betroffenen Kindern und Jugendlichen für die Umsetzung des Gesetzes engagiert. Sie waren und sind davon überzeugt, dass das Gesetz besser war als alles, was zuvor an gesetzlichen Regelungen existierte. Es ist befremdlich, dass die vielfältigen Erfahrungen, die in den vergangenen vier Jahren gemacht worden waren, weder ausgewertet noch bei der erneuten Beschlussfassung berücksichtigt wurden. Und es widerspricht dem Geist der UN-Kinderrechtskonvention, der bolivianischen Verfassung und dem Kinder- und Jugendgesetz selbst, dass die arbeitenden Kinder gar nicht erst angehört wurden.
Die schließlich handstreichartig erfolgte Änderung des Gesetzes zeigt, dass nun auch in Bolivien die alten Machtverhältnisse wieder hergestellt und die Sichtweisen und Rechte der arbeitenden Kinder wie auch der Mitarbeiter in den Kinderrechtsbüros ignoriert werden. Das kontraproduktive Genehmigungsverfahren für die Jugendlichen wurde jetzt sogar noch zusätzlich vom Arbeitsministerium auf die überlasteten kommunalen Kinderrechtsbüros übertragen.
Die Versprechen der Verfassung für ein „gutes Leben“ und die Respektierung indigener Traditionen haben sich weitgehend in Luft aufgelöst. Die UNATSBO brachte die Neuregelung lakonisch auf den Punkt: Nun sei auch die Regierung Boliviens entgegen ihrer antiimperialistischen Rhetorik vor dem „Imperium“ eingeknickt.
Mit der Änderung des Gesetzes werden die arbeitenden Kinder unter 14 Jahren ebenso wie die Mitarbeiter der kommunalen Kinderrechtsbüros mit den eigentlichen Problemen wieder alleingelassen: der Ausbeutung und Gewalt, der Behinderung der kindlichen Entwicklung sowie der Benachteiligung und Diskriminierung der arbeitenden Kinder.
Manfred Liebel ist Prof. a. D. für Soziologie an der TU Berlin und Schirmherr des Masterstudiengangs „Childhood Studies and Children’s Rights“ an der FH Potsdam.
manfred.liebel@googlemail.com