Identitätspolitik
Tiefe Gräben im Islam
Heute fühlen sich viele Muslime im Weltgeschehen immer noch marginalisiert, was antiwestliche Einstellungen bestärkt. Allerdings überbrückt das nicht die tiefen Gräben, die zwischen Muslimen aufklaffen. Radikale Islamisten predigen ein mythisches Verständnis von Einheit. Innerhalb des Islam gibt es aber schon seit Jahrhunderten Spaltungen.
Das Schisma zwischen Sunniten und Schiiten erfolgte im siebten Jahrhundert. Es hat Kriege ausgelöst. Heute unterstützen die autoritären Golf-Monarchien eine fundamentalistische Auslegung des sunnitischen Glaubens, während ein fundamentalistisch-schiitisches Regime den Iran regiert. Teheran und Riad kämpfen um die Vorherrschaft im Nahen Osten. Die Machthaber sichern ihre Position mittels Religion. Sie unterstützen Missionare, Milizen und autoritäre Regime. Stellvertreterkriege toben in Syrien, Irak und Jemen. Sunnitische Regierungen fürchten aktuell, dass das Rahmenabkommen über die Eindämmung seines Nuklearabkommens den Iran stärkt.
Es gibt aber auch Differenzen innerhalb des sunnitischen Glaubens. Der Wahhabismus der Golfstaaten ist eine rigide und puritanische Version. Aus ihr sind die Salafisten hervorgegangen, die so leben wollen wie der Prophet, sowie die Dschihadisten, die zum heiligen Krieg aufrufen.
Wahhabitische Missionare sind jenseits der arabischen Länder einflussreich. Sie unterhöhlen andere, meist tolerantere sunnitische Traditionen. Auf bizarre Weise gelingt es den eng mit den USA verbündeten Golf-Monarchien, antiwestliche Stimmungen zu schüren und für sich zu nutzen. Die Golfstaaten sind weder arm noch international marginalisiert, sie beuten aber muslimische Migranten aus anderen Ländern erbarmungslos aus.
Dieser Zynismus fällt auf, und manche Dschihadisten wenden sich deshalb gegen die Monarchen. Sie predigen, der heilige Krieg werde den Glauben reinigen und eine neue, geeinte islamische Weltmacht schaffen. Das Resultat ist aber nur Blutvergießen, Zerstörung und noch mehr Zynismus. Saudi-Arabien bekämpft heute Al Kaida und ISIS, aber es hat die Ideologie, auf der der Dschihadismus beruht, nicht revidiert.
Politisch ist eine weitere innersunnitische Differenz wichtig. Die Wahhabiten mögen die Muslimbrüder und verwandte Organisationen nicht. Die Bruderschaft entstand in den 1920er Jahren in Ägypten und fand schnell Nachahmer in anderen Ländern. Sie orientiert sich nicht an den Wahhabiten, sondern an ihrer eigenen Koranauslegung. Folglich stellten sich die Saudis nicht hinter Mohammed Mursi, der als Kandidat der Muslimbrüder erster demokratisch gewählter Präsident Ägyptens wurde, sondern halfen dem Militär, ihn 2013 zu stürzen. Um die Bedeutung der Muslimbrüder am Nil zu schwächen, finanzieren sie zudem salafistische Organisationen.
Die tunesische Ennahda gehört zu den politischen Parteien, die historisch und weltanschaulich mit den Muslimbrüdern verwandt sind. Sie regiert in einer großen Koalition mit, die von dschihadistischem Terror bedroht wird.
Manche Leute in Europa werteten den schweren Anschlag in Tunis im März als Beleg für die Inkompatibilität von Islam und Demokratie. Das ist Unfug. Tunesische Abgeordnete haben die Verfassung des Landes geschrieben, und die Tunesier haben sie mit großer Mehrheit in einer Volksabstimmung angenommen. Ennahda gehört zur Regierung. Wer behauptet, Tunesiens neues Grundgesetz sei irgendwie "westlich", missachtet den Volkswillen und spielt den Terroristen in die Hände. Die Verfassung beruht auf universellen demokratischen Werten, die nicht einer bestimmten Weltgegend gehören.
Es wäre dumm, das oberflächliche Solidaritätsgefühl unter Muslimen als Anzeichen für eine homogene, geschlossene und bedrohliche Weltanschauung zu werten. Wie das Christentum hat diese Religion verschiedene Glaubensrichtungen und Traditionen. Muslime wiederum sollten sorgfältig prüfen, wer mit welchen Motiven und welchen Ergebnissen ihren Glauben politisiert. (dem)