Kommentar

Autoritäre Postkolonialisten

Ende letzten Jahres wurde der Menschenrechtler Binayak Sen im zentralindischen Bundesstaat Chhatisgarh zu lebenslanger Haft verurteilt. Sein Fall heizt die Debatte über ein veraltetes Gesetz wieder an – nicht nur in Indien, sondern weltweit.

Von Siddharth Narrain

Im vergangenen Jahr erregte ein uralter Aufwiegelungsparagraph gleich zweimal Aufsehen. Im ersten Fall erhob ein Gericht Anklage gegen die Schriftstellerin Arundhati Roy, die zusammen mit anderen politischen Akteuren an einer Tagung zu Kaschmir teilgenommen hatte. Der Name der Tagung lautete „Azadi: Der einzige Weg“ („Azadi“ bedeutet Freiheit). Keiner der Angeklagten wurde letztlich verurteilt.

Wesentlich schockierender war es, als Binayak Sen Ende Dezember im zentralindischen Bundesstaat Chhattisgarh zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Sen ist von Beruf Arzt und ein international anerkannter Menschenrechtler. Ihm wird verschwörerische Aufwiegelung (conspiracy of sedition) vorgeworfen, die Anklage fußt zudem auf einem Gesetz zur „Verhinderung rechtswidriger Aktivitäten“ sowie auf einem mit drakonischen Strafen verbundenen, regionalen Sondergesetz, das der Bundesstaat Chhattisgarh einst gegen militante Maoisten (Naxaliten) eingeführt hatte.

Sen wurde beschuldigt, Nachrichten des vermeintlichen Naxaliten-Anführers Narayan Sanyal aus dem Gefängnis von Raipur geschleust zu haben. Deren Adressat, Piyush Guha, soll die Nachrichten wiederum an die Führung der Naxaliten weiter gegeben haben. Als ärztlicher Betreuer und Menschenrechtsaktivist besuchte Sen den inhaftierten Sanyal mehrmals. Die Anstalt gewährte ihm diese Besuche unter strenger Aufsicht. Das Urteil gegen ihn beruht auf fadenscheinigen Indizien, hauptsächlich auf Aussagen der Polizei.

Der Aufwiegelungsparagraph hat autoritäre, antidemokratische Ursprünge. Die britische Kolonialmacht nutzte ihn einst, um Mahatma Gandhi und andere Führer der Unabhängigkeitsbewegung festzusetzen. Sich im Namen der „öffentlichen Ordnung“ und der „nationalen Sicherheit“ auf ihn zu berufen, ist, gelinde gesagt, ein schlechter Witz.

Sen spielte eine wichtige Rolle bei der Veröffentlichung eines kritischen Berichts über die Regierung von Chhartisgarh. Diese stützt sich im Kampf gegen Linksextremisten auf die Hilfe einer militanten Bürgerwehr namens Salwa Judum. Salwa Judum hat Tausende eingeborener Adivasi gewalttätig vertrieben: viele von ihnen hausen heute in Notunterkünften. Wahrscheinlich war genau dieser Bericht der Landesregierung ein Dorn im Auge.

Als Indien unabhängig wurde, diskutierten die Urheber der Verfassung, ob Aufwiegelung (sedition) eine Ausnahme des Rechtes auf freie Meinungsäußerung rechtfertige. Aus gutem Grund ließen die Verfassungsurheber diesen Begriff beiseite. Abschnitt 124A des indischen Strafgesetzbuches (1860) allerdings wurde nie gestrichen. Deshalb verstößt bis heute gegen das Recht, wer „Hass oder Verachtung schürt oder zu schüren versucht, oder Unmut über die gesetzlich gültige Regierung erregt oder zu erregen versucht“. Als Höchststrafe gibt es für dieses Vergehen lebenslänglich.

Dieses Gesetz wurde angefochten. Der Oberste Gerichtshof hielt ihn 1964 im „Kedar-Nath-Singh-Urteil“ für verfassungsgemäß, ließ ihn aber allein für Handlungen gelten, hinter denen eine gezielte oder absichtliche Unruhestiftung, Störung öffentlicher Ordnung oder Anstiftung zur Gewalt stehe.

Trotzdem beriefen sich mehrere Folgeregierungen – insbesondere Vertreter aus Bundesstaaten – immer wieder auf das Gesetz, um politische Gegner unter Druck zu setzen oder zum Schweigen zu bringen. Meist hält der Vorwurf der Volksverhetzung keiner rechtlichen Prüfung stand, doch müssen die Betroffenen zeitraubende und aufreibende Rechtsverfahren durchstehen.

Sen saß bereits von Mai 2007 bis Mai 2009 in Untersuchungshaft, bis der Oberste Gerichtshof ihn schließlich gegen Kaution freiließ. Nun ist er wieder hinter Gittern. Seine Verhaftung erregte internationales Aufsehen und hat eine erneute Debatte über die Unverhältnismäßigkeit und Demokratiefeindlichkeit des Aufwiegelungsgesetzes in Indien entfacht. Bürgerrechtler aus aller Welt und aus Indien gehen dagegen vor. Aber selbstr wenn Sen irgendwann wieder frei kommt, ist er Opfer eines postkolonialen Autoritarismus.

Binayak Sen ist nicht der Einzige, der mit dieser Begründung zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde – die ärmeren, weniger prominenten und ungebildeten Menschen stehen derartigen Verfahren jedoch weit machtloser gegenüber.