Analyse

Ende der kolonialen Amnesie

Das Verhältnis zwischen Deutschland und Afrika ist bis heute durch eine nicht aufgearbeitete koloniale Vergangenheit geprägt. Dies analysieren und kritisieren mehrere Autoren in einem aktuellen Aufsatzsammelband, herausgegeben von E+Z/D+C-Autor Henning Melber. Die Aufsätze behandeln aber nicht nur die koloniale Vergangenheit, sondern auch Themen wie grüne Finanzflüsse in Afrika oder Gender in der Afrikapolitik.
Junge Männer der Volksgruppe der Herero erinnern im namibischen Okakarara an deutsche Kolonialverbrechen. picture-alliance/Wiebke Gebert/epa/dpa Junge Männer der Volksgruppe der Herero erinnern im namibischen Okakarara an deutsche Kolonialverbrechen.

Für Henning Melber ist die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit und das Anerkennen der deutschen Schuld Grundstein für eine Afrikapolitik auf Augenhöhe. Dies erklärte er kürzlich bei der Vorstellung seines Buches in der Brotfabrik in Frankfurt. Bislang ließe sich eine adäquate Aufarbeitung allerdings noch nicht erkennen. Im Gegenteil: Melber beklagt eine „koloniale Amnesie“, den Verlust des historischen Gedächtnisses um begangenes deutsches Unrecht wie den Völkermord an den Ovaherero und Nama im heutigen Namibia. Es komme noch oft zu einer Glorifizierung des Kolonialismus als zivilisatorische Mission in Afrika, die auch gern von Rechtspopulisten wie der AfD befeuert werde.

Warum oft auch in vermeintlich aufgeklärten Kreisen eine „koloniale Amnesie“ herrscht, begründet Melber so: „Es scheint, dass viele eine ‚Es reicht‘-Einstellung haben.“ Wir Deutsche seien mit der Aufarbeitung des Holocaust die Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung. Dass es dazu eigentlich sinnvoll wäre, einen Schritt zurückzugehen zum ersten Völkermord der Deutschen in Afrika, ist vielen nicht bewusst und wahrscheinlich zu mühsam.

Eine direkte Kontinuität zwischen der „kolonialen Amnesie“ und Rassismus gegenüber schwarzen Menschen in Deutschland erkennen die Bürgerrechtsaktivisten Tahir Della und Bebero Lehmann. Die nicht erfolgte Aufarbeitung der Vergangenheit prägte das Selbstbild Deutschlands als eine Nation weißer Menschen und hatte zur Folge, dass die Präsenz schwarzer Menschen in Deutschland unzureichend zur Kenntnis genommen wurde. „Schwarze Menschen werden in Deutschland bis heute ausgegrenzt und fremd gemacht“, kritisieren die Autoren. Praktisch jede schwarze Person hätte in Deutschland rassistische Erfahrungen machen müssen, „nicht nur im Alltag, durch rassistischen Sprachgebrauch und Anfeindungen, sondern strukturell in Kindertagesstätten, Schulen“ und später dann auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt und durch rassistische Polizeigewalt. In Deutschland herrsche struktureller Rassismus, so Della und Lehmann.

Dies zeige sich auch im so genannten Racial Profiling. Dies beschreibt ein auf Stereotypen und äußerlichen Merkmalen basierendes Vorgehen von Polizei-, Sicherheits- und Einwanderungsbeamten. Diese schätzen eine Person nicht anhand eines konkreten Verdachts als verdächtig ein, sondern aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion oder nationaler Herkunft. Viele Betroffene beschreiben etwa, dass sie in öffentlichen Verkehrsmitteln grundlos kontrolliert würden. Dies sei eine Diskriminierung schwarzer Menschen, schreiben die Autoren, die sich wiederum im Umgang des deutschen Staats mit geflüchteten Menschen aus Afrika fortsetze.

Den Umgang mit Geflüchteten und die deutsche Flüchtlingspolitik betrachtet auch der im Kongo geborene Boniface Mabanza Bambu, Koordinator der Kirchlichen Arbeitsstelle Südliches Afrika (KASA), in seinem Aufsatz kritisch. Er betont, dass mit der Flüchtlingswelle 2015 die wenigsten Menschen aus Afrika nach Europa kamen, sondern die meisten aus den Bürgerkriegsländern des Nahen Ostens. Dass Afrikaner genauso in den Fokus rückten, hat Bambus Meinung nach damit zu tun, dass die Unterscheidung zwischen „Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen“ verschärft wurde, wobei die Afrikaner als Wirtschaftsflüchtlinge betrachtet werden.

Der Autor lehnt diese Unterscheidung als unzulässig ab. Der Grund für die Flucht vieler Afrikaner läge nämlich unter anderem an der „zerstörerischen“ herrschenden Wirtschaftsordnung mit ihrer Handelsliberalisierung in Entwicklungsländern. Die Überschwemmung der afrikanischen Märkte mit subventionierten Lebensmitteln aus Europa wie Hühnerfleisch, Milch oder Tomaten vernichte die Existenzgrundlage afrikanischer Bauern. Faire Handelsbeziehungen zu Entwicklungsländern wie sie Entwicklungsminister Gerd Müller fordere, bleiben eine „rein populistische Deklaration“, solange diese „keinen Einzug in die Gestaltung konkreter Programme“ wie der „Sonderinitiative mit dem schön klingenden Namen ‚Fluchtursachen bekämpfen‘“ fände.


Buch
Melber, H. (Hg.), 2019: Deutschland und Afrika – Anatomie eines komplexen Verhältnisses. Brandes & Apsel, Frankfurt.

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Um die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen, ist gute Regierungsführung nötig – von der lokalen bis zur globalen Ebene.