Afrotopia

Eine Zukunftsvision für Afrika

Afrika muss sich von westlichen Maßstäben befreien und sich auf seine eigenen, vergessenen und verdrängten geistigen Ressourcen besinnen, fordert der senegalesische Ökonom Felwine Sarr. Nur so könne der Kontinent wieder den Platz in der Welt einnehmen, der ihm zustehe.
Westliche Messinstrumente erfassen den großen informellen Sektor in Afrika nicht: Wassermelonenanbau in Tansania. dw Westliche Messinstrumente erfassen den großen informellen Sektor in Afrika nicht: Wassermelonenanbau in Tansania.

Vor rund 50 Jahren erlangten die letzten europäischen Kolonien in Afrika die Unabhängigkeit. Die weiße Minderheitsherrschaft in Südafrika endete in den 1990er Jahren. Dennoch scheinen zumindest einige der 54 Länder des Kontinents in einer Dauerkrise zu stecken. Das verfestigt uralte Stereotype von Afrika als einem fin­steren Ort, der geprägt ist von Armut, Hunger und Kriegen.

Der Maßstab, mit dem Zustand und Perspektive Afrikas gemessen werden, sei das Entwicklungsmodell des Westens, schreibt Sarr in seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch „Afrotopia“. Entwicklung werde darin in erster Linie als wirtschaftliches Aufholen verstanden.

Nicht das Wohlergehen der Menschen stehe im Mittelpunkt, sondern das Bruttosozialprodukt oder die Weltmarkt­position einer Nation. Um in dieser Welt anerkannt zu werden, scheine den Afrikanern nichts anderes übrigzubleiben, als sich in die Rolle der minderbemittelten Schüler des Westens zu fügen, schreibt Sarr, der unter anderem 2018 als Co-Autor des vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Auftrag gegebenen Berichts über die Rückgabe afrikanischer Raubkunst Aufmerksamkeit erregte (siehe hierzu auch Blogbeitrag von Hans Dembowski auf unserer E+Z/D+C-Website).

Sklaverei, Kolonialismus und die Ausbeutung von Rohstoffen hätten tiefe Spuren in Afrika und den Seelen der Menschen hinterlassen. Allein durch die direkten und indirekten Folgen des Sklavenhandels habe der Kontinent bis zu 224 Millionen Menschen verloren. Sarr zufolge wird es Jahrhunderte brauchen, um sich von dem Verlust an Arbeitskraft und Bodenschätzen zu erholen. In der westlichen Welt halte sich zwar teilweise bis heute die Vorstellung, man habe Afrika „die Zivilisation“ gebracht, dabei gerate aber oft in Vergessenheit, wie groß der Anteil eben dieser westlichen Welt an Afrikas Krise sei, mahnt er.

Darüber hinaus sei das westliche Wirtschaftsmodell konträr zur afrikanischen Kultur und zur Tradition informellen Wirtschaftens, das mehr Familien in Afrika ernähre als formelle Arbeit. Westliche Messinstrumente erfassten diesen großen informellen Sektor nicht. Es gebe daher eine große Kluft zwischen dem, was internationale Indikatoren über den Kontinent aussagen, und dem, was die Menschen in der Realität erleben.

Zudem hätten die Industrienationen angesichts der Krise ihrer Demokratien, der wachsenden sozialen Ungerechtigkeit und des von ihnen verursachten Klimawandels in den vergangenen Jahren dramatisch an Autorität verloren. Das auf Wachstum ausgelegte westliche Wirtschaftssystem mit seiner rücksichtslosen Ausbeutung habe sich als ruinös erwiesen und sei keineswegs nachahmungswürdig.

Die Länder Afrikas hätten zwar nach und nach formell ihre politische Unabhängigkeit erstritten, doch seien afrikanische Herrscher oftmals nur Marionetten des Westens und hätten koloniale Herrschaftsformen übernommen. Dies spiegele sich bis heute beispielsweise in den Strukturen des Verwaltungs-, aber auch des Bildungssystems, der Sprache und in der Elitenformung wieder.

Sarr geht es nach eigenen Aussagen nicht darum, die Vergangenheit zurückzuholen oder zu romantisieren. Vielmehr müsse Afrika unter den aktuellen Gegebenheiten seine eigene Praxis des Wirtschaftens und Lebens entwickeln, basierend auf der afrikanischen Kultur und auf Traditionen, die den Prinzipien der Nachhaltigkeit, des Gemeinwohls und der Achtsamkeit folgten – Prinzipien, die in unserer sich immer schneller drehenden Welt wieder mehr und mehr an Bedeutung gewinnen.

Die Zeit Afrikas werde kommen, schreibt Sarr, seiner Bodenschätze wegen und seiner jungen Bevölkerung wegen – Mitte dieses Jahrhunderts werden gut 2 Milliarden Menschen und damit mehr als ein Fünftel der Weltbevölkerung auf dem afrikanischen Kontinent leben. Wenn Afrika die Entfremdung von seiner eigenen Kultur hinter sich lasse, könne es wieder aufblühen und den Platz in der Welt einnehmen, der ihm als Wiege der Menschheit gebühre.


Buch
Sarr, F., 2019: Afrotopia. Berlin, Matthes & Seitz (französische Originalausgabe erschienen 2016, Éditions Philippe Rey).

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