Hans-Joachim Preuß, Deutsche Welthungerhilfe
„Afghanistan ist noch nicht reif für einen Zentralstaat“
kamen drei Bundeswehrsoldaten bei einem Anschlag in Kundus
ums Leben. Davor waren kurz hintereinander zwei Mitarbeiter der
Deutschen Welthungerhilfe (DWHH) ermordet worden.
Als Reaktion darauf kündigte die Hilfsorganisation an, vorerst keine neuen Projekte am Hindukusch zu starten. Für DWHH-Generalsekretär Hans-Joachim Preuß hat die internationale Gemeinschaft sich bislang zu stark auf die Regierung in Kabul konzentriert. Im Oktober will die Welthungerhilfe eine neue Afghanistan-Strategie vorlegen.
Ist die Stabilisierung Afghanistans gescheitert?
Die Sicherheitslage hat sich jedenfalls nicht verbessert. Weder zur Zeit der Mudschaheddin noch unter den Taliban waren Ausländer und ausländische Helfer derart bedroht wie heute. Auch mit Blick auf den ökonomischen Wiederaufbau würde ich nicht von Stabilisierung sprechen. Es gibt eine große Kluft zwischen der Entwicklung in den Städten einerseits und auf dem Land andererseits – auch das erhöht die Spannungen. Kurz: Die sicherheitspolitische und die ökonomische Stabilisierung, so wie sie sich die internationale Gemeinschaft nach dem Sturz der Taliban vorgenommen hat, ist tatsächlich gescheitert.
Was sind die Ursachen für die Verschlechterung der Sicherheitslage?
Eine wichtige Rolle spielen Taliban und Hassprediger, die aus Pakistan nach Afghanistan kommen. Dagegen kann Entwicklungspolitik nichts ausrichten. Weil aber die versprochenen Entwicklungserfolge ausbleiben, können sich diese Leute in Afghanistan frei bewegen wie die Fische im Wasser. Das unsensible und besetzerhafte Verhalten des ausländischen Militärs führt darüber hinaus zu erheblichen Spannungen in der Bevölkerung.
Warum sind die bisherigen entwicklungspolitischen Erfolge so dürftig?
Ich glaube, wir – und da schließe ich die Welthungerhilfe ein – haben zu lange darauf vertraut, dass die Regierung in Kabul tatsächlich das gesamte Volk und alle afghanischen Regionen vertritt. Wir stellen heute nach fünf Jahren fest, dass dem keineswegs so ist. Es gibt regionale Machtzentren in Afghanistan, die an der Verteilung von Entwicklungsgeldern nicht beteiligt wurden. Das hat die Tendenz befördert, die Intentionen der Zentralregierung zu sabotieren.
Warum kommt eine Hilfsorganisation wie die Welthungerhilfe erst nach fünf Jahren zu der Erkenntnis, dass große Teile der Hilfe an der Bevölkerung offenbar vorbeifließen und dass lokale Kräfte stärker beteiligt werden müssten?
Die Erkenntnis kommt nicht erst jetzt. Wir haben schon früher auf die Diskrepanz hingewiesen zwischen dem hohen Gesamtbetrag, den die Geber für Afghanistan zur Verfügung stellen, und dem weiterhin enormen Nachholbedarf im ländlichen Raum. Diese Kluft erklärt sich zum Teil durch den Mangel an Kapazitäten der Regierung in Kabul. Es besteht nach wie vor ein eklatanter Mangel an ausgebildeten Fachkräften, seien es Ingenieure, seien es Verwaltungskräfte. Es gibt große Schwierigkeiten, die Hilfsgelder über afghanische Strukturen sinnvoll auszugeben – die oft bemühte Absorptionskapazität ist schlichtweg erschöpft. Also versucht die Regierung, die Arbeit über nichtstaatliche Organisationen abzuwickeln. Dabei legt sie allerdings eine erschreckende Unfähigkeit an den Tag: Kabul hat unglaublich viel Geld in der Pipeline, kann es aber nicht abfließen lassen. Es dauert viel zu lang, bis die Regierung Projektanträge bewilligt hat und bis das Geld kommt. Im Kongo oder im Sudan beispielsweise können wir mit Einverständnis der Regierungen direkt mit Geldgebern wie der Afrikanischen Entwicklungsbank oder der KfW Entwicklungsbank zusammenarbeiten. In Afghanistan geht das nicht, und das sehe ich heute als Versäumnis.
Die Regierung klagt doch immer, sie bekomme von den Milliarden Hilfsgeldern kaum etwas zu sehen, weil die Geber das meiste über ihre eigenen Entwicklungsorganisationen ausgeben.
Der größte Teil unseres Afghanistan-Budgets – neben Spenden und Mitteln aus den NRO-Titeln der Geber – sind Mittel, die eigentlich für die Regierung von Präsident Karsai gedacht sind. Über die Verwendung dieser Mittel wird natürlich mit der Regierung verhandelt. Deshalb habe ich diese Klage auch nie verstanden. Dass es derart viele NROs in Afghanistan gibt und die Regierung teilweise keinen Überblick hat, was die alle tun, liegt doch auch daran, dass sie selbst nicht über die Kapazitäten verfügt, die Gelder auszugeben.
Im Rahmen Ihrer geplanten neuen Afghanistan-Strategie wollen Sie sich künftig von der Regierung in Kabul stärker abgrenzen. Widerspricht das nicht dem eigentlichen Zweck der internationalen Afghanistan-Mission, den Staat zu stärken?
Sie werden den Staat nicht aufbauen können, solange es keinen Frieden gibt. Und ohne Integration der oppositionellen Kräfte gibt es keinen Frieden. Im Grunde muss man sagen, dass die Bedingungen für einen starken Zentralstaat in Afghanistan noch nicht gegeben sind. Solange es nicht gelingt, wichtige lokale Machthaber und alle ethnischen Bevölkerungsgruppen ins Boot zu holen, so lange kann es auch keine Vision für einen gemeinsamen Staat geben. Ich denke, dieser Prozess dauert länger, als wir uns das vor fünf Jahren vorgestellt haben.
Noch einmal die Frage: Warum hat es so lange gedauert, bis Ihre Organisation zu dem Schluss gekommen ist, dass die Stabilisierung des Landes nicht gelingen kann, wenn sich alle nur auf die Regierung in Kabul konzentrieren?
Wir haben ja so weit es geht mit lokalen Kräften kooperiert und waren durchaus verankert in den ländlichen Regionen. Das Problem ist, dass die Regierung es immer als ihr Verdienst dargestellt wissen wollte, wenn wir für sie in den Dörfern Projekte durchgeführt haben. Und das hat in einigen Fällen zu ablehnenden Reaktionen in der Bevölkerung geführt. Uns stellt sich die Frage, wie wir NRO-typische Ziele wie Frauenförderung oder Stärkung lokaler Partizipation und Demokratie mit den bestehenden gesellschaftlichen Strukturen verbinden. Ich glaube, das war manchmal blauäugig und überambitioniert angesichts des gesellschaftlichen Standes in Afghanistan.
Besteht nicht die Gefahr, dass Sie durch die Zusammenarbeit mit lokalen Machthabern undemokratische Kräfte stärken? Wo liegen für Sie die Grenzen der Kooperation?
Ich spreche nicht von Zusammenarbeit, sondern von Äquidistanz. In vielen Ländern, in denen wir arbeiten, haben wir es mit Verbrechern zu tun – ob sie nun aus der Regierung kommen oder nicht. Das ist in Afghanistan nicht anders als im Kongo, in Liberia oder im Sudan. Wir versuchen, uns die alle vom Leib zu halten, informieren sie aber darüber, was wir in ihrem Einflussbereich tun, und prüfen, ob das auf Ablehnung stößt oder nicht. In Afghanistan waren wir immer näher an der Regierung in Kabul gewesen als an den lokalen Machthabern, weil Erstere den Anspruch hatte, das ganze Land zu vertreten. Aber genau das kann sie nicht.
Sie wollen künftig auch größere Distanz zum internationalen Militäreinsatz wahren. Kann man denn in Afghanistan ohne militärischen Schutz entwicklungspolitisch arbeiten?
Früher war das möglich. Das Paradoxe ist, dass das durch den Militäreinsatz immer schwerer wird. Wir haben einen Konflikt angeheizt, der sich nicht von heute auf morgen wieder eindämmen lässt. Eigentlich soll eine Militärintervention die Bevölkerung vor Übergriffen durch Rebellen oder Warlords schützen. Nur: Die afghanische Bevölkerung braucht diesen Schutz gar nicht – anders als die Menschen in Sierra Leone, Kongo oder Sudan. In Afghanistan schützen die Soldaten sich eher selbst oder Einrichtungen der Regierung – und künftig möglicherweise eben auch verstärkt Hilfsmaßnahmen. Wir haben nichts gegen Militärinterventionen, wenn sie dem Schutz der Bevölkerung dienen. Wir lehnen aber ab, dass das Militär Entwicklungshilfe leistet und sich damit in Bereiche hineindrängt, die nicht zu seinen Aufgaben gehören.
Die Bundesregierung rechtfertigt ihr militärisches Engagement in Afghanistan aber ausdrücklich mit dem Schutz des Wiederaufbaus.
Das mag schon immer plausibel gewesen sein in Regionen nahe der Grenze zu Pakistan, wo die Taliban großen Einfluss haben. Aber es war bislang nicht plausibel in Kundus. Dort sind wir jetzt in einer Situation, in der offensichtlich die Präsenz des Militärs Widerstand hervorruft, den es bisher nicht gegeben hat. In Kundus oder in Jalalabad hat es früher diese Unsicherheit nicht gegeben. Die gibt es erst, seit dort ausländisches Militär ist.
Heißt das, Afghanistan wäre heute sicherer, wenn die internationale Militärpräsenz nach dem Sturz der Taliban deutlich reduziert worden wäre?
Darüber kann man nur spekulieren. Aber zweifellos bestand das große Versäumnis darin, nicht alle politischen Optionen erwogen zu haben – also auch die Option, mit ehemaligen Warlords und lokalen Machthabern den Kontakt zu suchen. Möglicherweise wären dann weniger Soldaten von außen nötig gewesen. Andererseits würde ich heute nicht unterschreiben, das Militär sofort abzuziehen. Es würde sofort ein Machtvakuum entstehen, die Regierung Karsai würde implodieren und die Taliban säßen möglicherweise bald schon wieder fest im Sattel.
Die Fragen stellte Tillmann Elliesen.