Haiti

Zäher Neustart

Haiti leidet weiter unter den Folgen des Erdbebens vor zwei Jahren. Doch die Ursachen für viele Probleme ­liegen tiefer. Zivilgesellschaftliche Organisationen warnen: Das Engagement darf jetzt nicht nachlassen.

Am 12. Januar 2010 verloren mehr als 230 000 Menschen ihr Leben und etwa 2,3 Millionen Menschen ihre Unterkunft. Es folgte eine Welle der internationalen Solidarität. Staaten versprachen Finanzhilfen in Milliardenhöhe, und zahlreiche Hilfsorganisationen halfen mit Zelten, Nahrung oder medizinischer Versorgung. Ein Papier der UN zeigt die Fortschritte der letzten beiden Jahre: Die Hälfte der Trümmer sind inzwischen weggeräumt. Die UN berichten, dass zurzeit mehr Kinder eine Schule besuchen als vor dem Beben. Rund 100 000 neu errichtete Häuser wurden bezogen. Der Ausnahmezustand ist vorbei; die massive Präsenz der Hilfsorganisationen nimmt ab.

Dennoch leben immer noch mehr als 500 000 Menschen in Zeltlagern. Die Bewohner können oft keiner geregelten Arbeit nachgehen. Hohe Nahrungsmittelpreise belasten vor allem Familien. Die Cholera, die seit Oktober 2010 in Haiti grassiert, verbreitet sich weiter.

Uneingelöste Versprechen

Von den versprochenen Geldern in Höhe von fast 4,5 Milliarden Dollar wurden bisher erst 53 Prozent ausgezahlt, wie Zahlen aus dem Büro des UN-Sondergesandten für Haiti dokumentieren. Einige Länder haben ihre Versprechen gehalten, wie Japan und Finnland. Andere hinken jedoch gewaltig hinterher, darunter die USA und Venezuela. Das versiegende Geld und der Rückzug vieler Organisationen hinterlassen spürbare Lücken. So berichten zum Beispiel die SOS-Kinderdörfer, dass die Zahl im Stich gelassener Kinder wieder steigt. Sie verloren ihre Eltern nicht durch Wirren infolge des Erdbebens, wie es vor zwei Jahren der Fall war. Viele Kinder, die heute in den Kinderdörfern Zuflucht finden, werden von ihren Eltern absichtlich fortgeschickt.

Dieses Phänomen ist leider in vielen armen Ländern verbreitet, erklärt Louay Yassin, Pressesprecher der SOS-Kinderdörfer. Jetzt, wo die Hilfe nachlässt, haben manche Eltern einfach nicht genügend Geld, um ihre Kinder durchzubringen. Andere beschließen, ihre Kinder in reichere Familien zu geben. Die so genannten Restavek-Kinder arbeiten dort wie Sklaven. Kernproblem ist also nicht mehr das Erdbeben, sondern die wiederkehrende, strukturelle Armut.

Katastrophenhilfe kann dagegen wenig ausrichten. In Haiti fehlen vor allem staatliche und zivilgesellschaftliche Strukturen. Das Land blickt zurück auf eine Diktatur von François „Papa Doc“ Duvalier und seinem Sohn John Claude „Baby Doc“, auf Militärputsche und bürgerkriegs­ähnliche Zustände. Seit 2004 ist eine UN-Friedensmission im Einsatz. Im März letzten Jahres wurde schließlich der Popsänger Michel Martelly zum Präsidenten gewählt. Zur Regierungsbildung brauchte er fünf Monate – das Parlament lehnte zwei von ihm vorgeschlagene Premier­minister ab.

Bereits zwei Monate nach dem Erdbeben hatte die Welthungerhilfe betont, wie wichtig es für Haiti sei, gleichzeitig mit der Infrastruktur auch staatliche Strukturen aufzubauen. Der Staat selbst müsse die Rahmenbedingungen für den Wiederaufbau definieren. In einem Brennpunkt-Papier warnte die zivilgesellschaftliche Organisation vor schnellen Lösungen, die dem Land mehr schaden als nutzen könnten: Bauen die Geber und Nichtregierungsorganisationen Parallelstrukturen auf, dann fällt das Land in Armut zurück, sobald die Hilfe ausläuft. Ausländische Lebensmittelhilfe zum Beispiel kann die Produktion im eigenen Land nicht ersetzen. Fatale Konsequenzen hat es auch, wenn die vielen Organisationen gut ausgebildete Staatsbedienstete abwerben.

Doch solche Ratschläge wurden kaum beherzigt: Auf Mittel der internationalen Gemeinschaft hat die Regierung bis heute kaum Einfluss, schreibt der Londoner ­Guardian. Das meiste Geld fließe an lokalen Institutionen vorbei; gerade sechs Prozent der bilateralen Hilfe für Wiederaufbauprojekte gehe durch haitianische Einrichtungen. Die Regierung habe weniger als ein Prozent direkt erhalten.

Manche Haitianer haben den Eindruck, als wäre ihr Land in der Hand
von UN-Truppen und Nicht­regierungs­organisa­tionen. „Republik der NGOs“ nennen sie Haiti. Der Wunsch nach mehr nationaler Souveränität ist nachvollziehbar. Er äußert sich aber auch auf fragwürdige Weise – etwa darin, dass Präsident Martelly wieder eine eigene Armee im Land aufbauen will. Doch die Regierung zeigt auch auf anderen Feldern Eigeninitiative: Mit Steuern auf Telefongespräche und Auslandsüberweisungen finanziert sie den kostenlosen Schulbesuch für Kinder aus armen Familien.

Vera Dicke