Fachliteratur
Gordischer Knoten
[ Von Imme Scholz ]
Angesichts der Dringlichkeit der Situation fragt sich, warum die Politik noch keine Maßnahmen zum Absenken der Treibhausgasemissionen getroffen oder sich von der fossilen Wirtschafts- und Energiepolitik abgewendet hat. Damit befasst sich Anthony Giddens in seinem neuen Buch „The Politics of Climate Change“. Der Professor an der London School of Economics (LSE) ist einer der angesehensten Soziologen Europas und hat sich auch durch Ausflüge in die praktische Politik einen Namen gemacht: Seinem Konzept des „Dritten Weges“ zur Modernisierung der Sozialdemokratie schlossen sich in den 90er Jahren Tony Blair und Gerhard Schröder an.
Ein längst bekanntes Dilemma der Klimapolitik bezeichnet der Autor etwas eitel als „Giddens’ Paradox“: „Da die Gefahren der globalen Erwärmung weder greifbar sind noch unmittelbar bevorstehen oder im Alltag sichtbar, bleiben viele untätig und tun nichts Konkretes, um diese Gefahren abzuwehren – so Furcht einflößend sie auch zu sein scheinen. Aber darauf zu warten, dass sie sichtbar und akut werden, um dann erst einzugreifen, ist per Definition zu spät.“
Eine systematische Analyse entwickelt Giddens auf dieser Basis allerdings nicht. Als Grund für die bisherige Ineffizienz der Klimarahmenkonvention und des Kyoto-Protokolls nennt Giddens kurzfristige nationale Egoismen. So begründeten zum Beispiel die USA ihre Weigerung, sich am Kyoto-Protokoll zu beteiligen, damit, dass dieses Abkommen den Wettbewerb mit von Minderungspflichten ausgenommenen Entwicklungsländern wie China verzerre. Klima- und wirtschaftspolitische Ziele waren also unvereinbar. Klimapolitische Fortschritte in einzelnen europäischen Ländern resultieren Giddens zufolge aus einzelstaatlichen Kalkülen wie dem Streben nach Energiesicherheit und Kosteneinsparungen durch höhere Energieeffizienz, aber nicht aus originär klimapolitischen Motiven.
Die eigentliche Schuld sieht der Soziologe aber bei der tendenziell fundamentalistischen grünen Kritik am Kapitalismus und der repräsentativen (Parteien-)Demokratie. Deshalb habe man keine klaren Prinzipien und Begriffe entwickelt, die zu praktikablen politischen Lösungen führten. Giddens meint, dank des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts werde der Mensch die Natur immer besser beherrschen („ökologische Modernisierung“) und somit den Klimawandel bekämpfen können.
An unbegrenzte technische Chancen glaubend, verwirft er auch das Vorsorgeprinzip, das aus der Kritik an Großrisikotechnologien wie der Atomkraft hervorgegangen ist und demzufolge Risiken zu vermeiden sind und Gefahren vorgebeugt werden muss. Anders als Giddens es nahelegt, ist dies aber kein technikfeindliches, sondern ein durchaus realistisches Konzept. Die Analysen des IPCC (2007) belegen ja, dass wir noch weit davon entfernt sind, die Komplexität klimatischer und ökologischer Prozesse überhaupt zu durchschauen. Von ihrer Beherrschung kann keine Rede sein.
So enttäuschend Giddens’ Analyse im Kern auch ist – in vielen Punkten sind seine Forderungen richtig. Klimapolitik muss in der Tat
– langfristig und parteiübergreifend betrieben werden,
– Entscheidungen in vielen Ressorts beeinflussen,
– in neuen Kooperationsformen zwischen Regierungen, verschiedenen Verwaltungsebenen, der Privatwirtschaft und der Zivilgesellschaft abgestimmt werden und
– negative Auswirkungen auf arme Bevölkerungsschichten vermeiden, damit sie allgemein akzeptiert wird.
Giddens blickt dem Gipfel in Kopenhagen im Dezember skeptisch entgegen. Aus seiner Sicht werden die Verhandlungen über ein Weltabkommen entweder an den Eigeninteressen starker Nationen scheitern oder nur zu einer Lösung auf dem allerkleinsten gemeinsamen Nenner führen. Als Alternative empfiehlt er, Klimapolitik im Club der sechs größten Emittenten auszuhandeln. Auch regionale Kooperation hält er für sinnvoll. Ausdrücklich befürwortet er „Coalitions of the willing“.
Dem widersprechen Frank Biermann, Philipp Pattberg und Fariborz Zelli (2009). Ihre Studie betont die Bedeutung global abgestimmter Politik. Mit dem Begriff „global governance architecture“ umschreiben sie das Ineinandergreifen verschiedener Verträge, Organisationen und Verhandlungsprozesse auf internationaler Ebene. Die Gesamtarchitektur ist das Ergebnis inkrementeller Entwicklungen bei der politischen Bearbeitung verschiedener globaler Probleme mit unterschiedlichen Reichweiten. Sie ist ihrem Wesen nach fragmentarisch.
Je klarer das betreffende Handlungsfeld definiert ist, umso besser stehen die Chancen für stringentes internationales Handeln. Die Autoren unterscheiden drei Arten der Fragmentierung von Global Governance:
– Bei der „synergistischen“ wirken die einzelnen Elemente eng zusammen,
– bei der „kooperativen“ gelingt es trotz großer Unterschiede zwischen beteiligten Institutionen, Prinzipien und Interessen offene Konflikte zu vermeiden, und
– in der „konfliktiven“ akzeptieren Akteure Konflikte und Konkurrenzen und betonen derlei sogar.
Die globale Klimapolitik nennen Biermann, Pattberg und Zelli als Beispiel für kooperative Fragmentierung. Denn die Klimarahmenkonvention und das Kyoto-Protokoll bilden trotz enormer Interessengegensätze einen gemeinsamen Bezugsrahmen für alle Nationen.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Giddens’ Vorschlag der coalitions of the willing in die Irre führt. Die Treibhausgasemissionen müssen weltweit und auf Dauer auf ein bestimmtes Maß begrenzt werden. Wenn das gelingen soll, müssen alle aktuellen wie künftigen Emittenten mitwirken.
Neues Modell für Emissionshandel
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung globale Umweltveränderungen (WBGU) macht unterdessen einen Vorschlag, wie ein Abkommen in Kopenhagen zu Stande kommen könnte. Er geht davon aus, dass der bisherige Verhandlungspfad keinen Erfolg bringt. Die Interessen der einzelnen Länder behindern einander, und die bestehenden Instrumente sind zu bürokratisch und bieten keinen Anreiz zum wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandel.
Um diesen „gordischen Knoten der Klimapolitik“ zu zerschlagen, schlägt der WBGU einen globalen Emissionshandel vor, der nicht wie bisher auf Minderungspflichten beruhen soll, sondern auf gleichen Emissionsrechten pro Kopf. Berechnet würden diese auf Basis der Menge an CO2-Emissionen, die bis 2050 von der Erdatmosphäre noch aufgenommen werden können, ohne dass die globale Erwärmung zwei Grad übersteigt. Aus Gründen der Gerechtigkeit würde dieses CO2-Globalbudget gleichmäßig auf die Weltbevölkerung des Jahres 2010 verteilt. Die Länder könnten diese Emissionsbudgets selbst nutzen oder verkaufen.
Der WBGU berücksichtigt in seinen Analysen auch das künftige Wirtschaftswachstum. Klar werden dabei zwei Dinge:
– Je später die globale Emissionsreduzierung beginnt, desto schwieriger wird es, die Zwei-Grad-Schwelle einzuhalten. Sinken die CO2-Emissionen erst ab 2015, müssen fortan jährlich weltweit bis zu fünf Prozent (bezogen auf 2008) weniger ausgestoßen werden. Das hieße, dass die Menschheit in jedem Jahr die Reduktionsleistung erbringen müsste, die im Kyoto-Protokoll über zwei Jahrzehnte vorgesehen war.
– Nicht nur die Industrieländer stehen unter dem Druck, ihre Wirtschaft schon vor 2050 zu dekarbonisieren, sondern auch einige arabische Staaten, Venezuela, Südafrika und der Iran. Eine zweite Gruppe wird 20 bis 40 Jahre Zeit haben, darunter China, Mexiko, Argentinien, Chile und Thailand, aber auch Kuba, Tunesien und Syrien. Zur dritten Gruppe gehören Länder, die derzeit pro Kopf sehr wenig ausstoßen, also Indien, Brasilien, Ägypten, Peru und die meisten afrikanischen Länder (bezogen auf Emissionen aus der Verbrennung fossiler Energieträger). Hier lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung.
Der WGBU-Ansatz würde besonders den Interessen der armen Länder dienen. Einerseits gewännen sie Zeit, bis sie CO2 reduzieren müssen, andererseits erhielten sie durch den Verkauf von Emissionsrechten zusätzliche Finanzmittel.
Möglich würden dadurch auch Koalitionen zwischen Ländergruppen, die bisher keine strategischen Interessen teilen. Industrieländer werden armen Ländern Emissionsrechte abkaufen und so deren klimaverträgliche Entwicklung finanzieren. Zudem kooperieren sie mit Ländern der mittleren Gruppe und kofinanzieren deren Strukturwandel zumindest zum Teil, damit die internationalen Preise für Emissionsrechte nicht endlos steigen.
Der WBGU zeigt, dass wenig Zeit bleibt und wir auf kooperative Lösungen angewiesen sind. Für Experimente ist definitiv keine Zeit mehr. Selbstverständlich setzt auch das WBGU-Konzept die Einsicht der Regierenden in Nord und Süd voraus. Aber er bietet eine Möglichkeit, den Verhandlungsmarathon der vergangenen 17 Jahre rasch und effektiv zu beenden.