Weltentwicklungsbericht
Wichtige Migrationsformen
[ Von Eva Dick und Einhard Schmidt-Kallert ]
Surabaya, die zweitgrößte Stadt Indonesiens, dynamische Wirtschaftsmetropole und Hafenstadt, hat offiziell 2,5 Millionen Einwohner. Doch jenseits der amtlichen Statistik zeigen Studien, dass die Einwohnerzahl stark schwankt. Je nach Jahreszeit wandert ein beträchtlicher Teil der „städtischen“ Bevölkerung – meist Menschen, die im informellen Sektor ihr tägliches Brot verdienen – zum Reisanbau in die Heimatdörfer zurück. Umgekehrt sichern außerlandwirtschaftliche Einkünfte die Existenz der auf dem Land zurückgebliebenen Familienangehörigen.
Den sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Stadt und Land schenkt der wissenschaftliche und entwicklungspolitische Mainstream erst seit kurzem Beachtung. Das zeigt auch der neueste Weltentwicklungsbericht der Weltbank „Reshaping Economic Geography“. Er untersucht den Einfluss räumlicher Gegebenheiten auf wirtschaftliche und soziale Entwicklung – und zwar auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Mobilität wird als Faktor für Entwicklung von Wirtschaftsräumen betrachtet und dabei auch die nationale Migration zwischen wachsenden und schrumpfenden Gebieten – Stadt und Land – diskutiert. Weit mehr Menschen migrieren zwischen Städten und Regionen als von einem Land ins andere.
Die Autoren bewerten Migration weitgehend positiv. Sie fordern für Mobilität von Personen, ebenso wie für die von Gütern und Kapital, dass der Markt über ihre Stärke und Richtung entscheiden solle: „let markets pick the places“.
Migration sei kaum zu vermeiden, heißt es. Der Bericht verweist auf zahlreiche fehlgeschlagene Versuche nationaler Regierungen, Abwanderung in die Metropolen zu verhindern. Der Anziehungskraft von Städten und anderen „leading regions“ sei wenig entgegenzusetzen. Und was den Beitrag von Migration zu Wirtschaftswachstum und Wohlstandsmehrung angeht, so profitieren nach Meinung der Autoren im Idealfall Herkunfts- wie Aufnahmeregionen. Die einen durch Rücktransfers von Geld und Know-How, die anderen durch Arbeitskräfte.
Allerdings ist aus der durchgehend volkswirtschaftlichen Sicht der Autoren nicht jede Form von Migration wünschenswert. Die Herausforderung für Regierungen bestehe darin, Wanderungen aus falschen Motiven zu verhindern, nicht Migration schlechthin.
Die Autoren befürworten die freiwillige Migration leistungsfähiger, gut ausgebildeter Migranten. Diese Menschen seien unabdingbar für die Entfaltung von Wirtschafts- und Wissensclustern. Die räumliche Konzentration gut ausgebildeter, einkommensstarker Arbeitskräfte führe langfristig zu Einkommensangleichung und weniger Armut. Eine ähnliche Position vertraten schon Polarisationstheoretiker wie Albert Hirschmann vor 30 Jahren. Politik sollte diese Form der erwünschten Migration durch einen rechtlichen Rahmen wie über den Ausbau von Infrastruktur fördern.
So heißt es bei der Weltbank nun auch, die unfreiwillige Art der Land-Stadt Migration sei ökonomisch ineffizient und überlaste Megastädte in Entwicklungsländern. Durch schlechte Lebensbedingungen in den Herkunftsregionen ausgelöste Migration ländlicher Bevölkerungsgruppen solle deshalb verhindert werden; etwa durch gezielte Verbesserung der dortigen sozialen Basisdienstleistungen wie Gesundheitsversorgung, Bildung et cetera. Der Bericht bevorzugt derartige „spatially blind measures“ gegenüber einer gezielten ökonomischen Förderung schrumpfender Gebiete.
Zweifellos ist die zentrale Botschaft des Weltentwicklungsberichts, Migration zwischen Stadt und Land zu fördern, innovativ. Leider ist aber die implizit mitschwingende Forderung, „skilled migration“ zu fördern, erheblich weniger innovativ.
Fraglich ist zudem, ob der Report der Lebensrealität und den Motiven der armen Migranten in afrikanischen und asiatischen Ländern gerecht wird. Da ist zunächst die Perspektive von oben, die sich durch den Bericht zieht. Zwar werden unterschiedliche Migrationsmotive – Streben nach höheren Löhnen und Bildung versus Flucht vor schlechten Lebensbedingungen – als Basis für verschiedene politische Reaktionen reflektiert. Die Einordnung in „gute“ und „schlechte“ Migration beruht aber letztlich auf gesamtwirtschaftlichen Erwägungen und geschieht nicht im Hinblick auf Armutsminderung von Menschen und Haushalten.
Auch werden eher Migrationsmotive von Individuen als von Haushalten betrachtet. Aber in Asien und Afrika entscheidet der erhoffte Nutzen auf der Haushaltsebene, ob, wohin und wer (rural-rural oder rural-urban) migriert. Problematisch ist auch der ausgewählte Realitätsausschnitt. Sind die Beispiele industriellen Aufstiegs in Singapur, Südkorea, Chinas Ostküste, auf die Länder Afrikas südlich der Sahara oder Südostasiens übertragbar? In vielen dieser Staaten sind Migrationsbewegungen genauso umfangreich wie in Ländern mit großer Industrialisierungsdynamik, ohne dass dort Urbanisierung mit Industrialisierung einherginge. Ist das alles im Sinne des Berichts „schlechte Migration“? Und was wäre Ländern zu empfehlen, in denen sich noch keine Innovationscluster herausbilden?
Schließlich, und das resultiert aus der Vernachlässigung der Haushaltsperspektive, erwähnt der Bericht an keiner Stelle das Zusammenspiel ländlich und städtisch basierter Überlebensstrategien multilokaler Haushalte. Oft beruhen Stadt-Land-Verflechtungen auf der Kombination von ökonomischen Möglichkeiten, die der städtische informelle Sektor bietet, mit sozialen und ökonomischen Optionen im ländlichen Raum. Auch diese sind meist informell.
Dort, wo staatliche Politik nichtpermanente Migrationsformen ernst nimmt und entsprechend übergreifende Formen der Governance entwickelt, dürfte sich das Potential solcher informellen Stadt-Land-Beziehungen besser entfalten. Hier sollten viele Regierungen in Afrika oder Asien ansetzen, anstatt auf neue Industrie- und Hightech-Cluster zu warten.
Der Weltentwicklungsbericht gibt einen wichtigen Anstoß für die Neubewertung von Migration, da er endlich das Stadt-Land-Wechselspiel ernst nimmt. Aber es reicht nicht, aus den Erfolgsgeschichten einiger Tigerstaaten Politikempfehlungen für die ganze Welt zu destillieren.