Internationale Beziehungen

Von „Unterentwicklung“ zu SDGs

Stereotypes Denken teilt die Welt in zwei Gruppen: wenige erfolgreiche Länder auf der einen und viele benachteiligte Länder auf der anderen Seite. Die Ziele für nachhaltige Entwicklung der UN versuchen, diese Klischees zu überwinden.
Königin Elisabeth II. und Präsident Kwame Nkrumah auf einer Plakatwand in Accra im Jahr 1961 vor dem Besuch der Monarchin in der ehemaligen Kolonie, die damals als „unterentwickeltes“ Land galt. picture-alliance/AP Images Königin Elisabeth II. und Präsident Kwame Nkrumah auf einer Plakatwand in Accra im Jahr 1961 vor dem Besuch der Monarchin in der ehemaligen Kolonie, die damals als „unterentwickeltes“ Land galt.

Aus westlicher Sicht ähneln sich die ehemaligen Kolonien: Es sind Länder, die allesamt entwickelt werden müssen. In seinem Grundlagenwerk „Orientalismus“ kritisierte der amerikanisch-palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said das Klischee, dass Europa mächtig und wortgewandt und Asien besiegt und weit entfernt sei.

Was Said vor über 40 Jahren geschrieben hat, ist noch heute aktuell. Die imaginäre Grenze, die er kritisierte, trennt die ehemaligen Eroberer von den Besiegten, die ehemaligen Kolonialherren von den kolonialisierten Ländern und die reichen von den armen Ländern. In diesem Zusammenhang verstärken Begriffe wie „Dritte Welt“, „Entwicklungsländer“ oder „Globaler Süden“ negative Stereotype. Zwar wurden sie geprägt, um der Dichotomie der Welt zu entkommen. Doch bedeuten all diese Begriffe im Grunde, dass bestimmte Länder Erfolg haben, während andere gescheitert sind.

Der Begriff „Dritte Welt“ wird immer noch verwendet, obwohl er keinen Sinn mehr ergibt. Eigentlich stand er für die blockfreien Staaten, die während des Kalten Krieges weder zum kapitalistischen Westen noch zum kommunistischen Osten gehörten. Da viele von ihnen in Afrika, Asien, der Pazifikregion oder in Lateinamerika lagen, wurde „Dritte Welt“ zum Synonym für „Entwicklungsländer“.

Die Bezeichnung „Globaler Süden“ ist wesentlich neuer. Der Begriff ist zwar politisch korrekt, betont aber immer noch die Zweiteilung der Welt in einen privilegierten Norden und einen benachteiligten Süden. Eine politisch korrekte Sprache prägt die Wahrnehmung also nur zu einem gewissen Grad.

Trotzdem ist es sinnvoll, die Rhetorik zu ändern, wenn sich die zugrundeliegenden Ideen als gefährlich erweisen. Laut des ukrainischen Intellektuellen Marcin Solarz löste der Begriff „Entwicklungsländer“ die Bezeichnung „unterentwickelte Länder“ im UN-Kontext erst in den späten 1960er Jahren ab. Inzwischen ist er zur gängigsten Kategorisierung für Länder in Afrika, Asien, Lateinamerika und Ozeanien geworden.

Humangeografin Katie Willis weist darauf hin, dass die Bezeichnungen „unterentwickelte“ und „nicht entwickelte“ Länder eine Unfähigkeit zur Veränderung unterstellen, während „Entwicklungsländer“ dynamischer klingt. Viele Menschen verbinden aber auch mit diesem Begriff Armut und Hunger.

Dennoch hat sich das Verständnis von „Entwicklung“ verändert – jedenfalls für Menschen, die in diesem Bereich tätig sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Entwicklung mit Wirtschaftswachstum und Modernisierung gleichgesetzt, was wiederum Verstädterung, Industrialisierung und Technologie bedeutete. Versuche, die gewünschten Veränderungen durch technokratische Hilfe zu erreichen, scheiterten jedoch. Dementsprechend begann sich die Debatte darüber, was „Entwicklung“ bedeutet, zu erhitzen.

In den 1990ern führte das UN Development Programme (UNDP) die Idee der „menschlichen Entwicklung“ ein. Neben dem Einkommen wurden in diesem Zusammenhang auch die Indikatoren Gesundheit und Bildung beachtet. Das Ziel war es, Menschen zu ermächtigen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Als Voraussetzungen dafür galten ein Mindestmaß an finanziellen Mitteln sowie physische und intellektuelle Fähigkeiten.

Mit den jährlich erscheinenden Human Development Reports hat das UNDP sein „Entwicklungskonzept“ weiterentwickelt. Der Human Development Index (HDI) wurde ursprünglich in Zusammenarbeit mit den Wirtschaftswissenschaftlern Mahbub ul Haq aus Pakistan und Amartya Sen aus Indien entwickelt. Die Idee der persönlichen Freiheit, die hinter dem HDI steckt, hat ihre Wurzeln in der europäischen Aufklärung. Seit sie von den UN übernommen wurde, ist sie jedoch allgemein gültig. Dasselbe gilt für die Menschenrechte.

Die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) der UN greifen die Idee des HDI auf. Sie gehen jedoch weiter und richten sich an alle Staaten – nicht nur an die Entwicklungsländer. Während in der allgemeinen Wahrnehmung die Unterscheidung zwischen einigen privilegierten und vielen benachteiligten Ländern nach wie vor besteht, haben die UN sie zumindest konzeptionell überwunden.


Mahwish Gul ist Beraterin mit dem Schwerpunkt Entwicklungsmanagement und lebt in Nairobi.
mahwish.gul@gmail.com