Ukrainekrieg
Es wird wohl mehr Hungernde und Verhungernde geben
Eigentlich hätten die ukrainischen Landwirte in den ersten beiden Märzwochen für die Getreideproduktion der diesjährigen Saison auf ihren Feldern arbeiten müssen. Doch statt Dünger auszubringen, verteidigten viele von ihnen ihr Land oder waren auf der Flucht. Das wird Folgen für Millionen Menschen weltweit haben.
Der Weizenexport aus dem angegriffenen Land ist praktisch zum Erliegen gekommen, da Häfen nicht funktionieren und viele Firmen derzeit nicht arbeiten. Auch der Handel mit Russland ist derzeit stark eingeschränkt. Zwar sind Lebensmittel von den Anfang März beschlossenen Sanktionen gegen Russland ausgenommen. Handel wäre also noch möglich. Branchenkenner beobachten jedoch, dass sich Getreidehändler aus Eigeninitiative aus Russland zurückziehen. Hinzu kommt, dass Russland angekündigt hat, den Export von Getreide zu stoppen.
Als Folge schnellt der Weizenpreis, der ohnehin auf einem hohen Niveau lag, in die Höhe. Preistreiber sind neben der akuten Verknappung auch die hohen Energiepreise und die Unsicherheit mit Blick auf die Ernten der nächsten Jahre, erklärt die Agrarexpertin der Heinrich-Böll-Stiftung Christine Chemnitz. Hinzu kommen durch den Krieg gestiegene Versicherungsprämien für Schiffe, die das Schwarze Meer befahren.
Keinen großen Einfluss auf die Preise hat Chemnitz zufolge aktuell die Börse, wohl aber China. Das Land habe sich mit Weizen eingedeckt. Bemerkenswert dabei ist das Timing: Erstmals überhaupt kaufte China laut der Nachrichtenagentur Associated Press am 24. Februar 2022 Weizen in Russland ein – dem ersten Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine. „Die Weltmarktströme verändern sich gerade ganz massiv“, sagt Christof Buchholz, Geschäftsführer des Vereins der Getreidehändler an der Hamburger Börse. Schon werden Vermutungen laut, China wolle seine Getreidevorräte auch machtpolitisch einsetzen.
„Die hohen Preise könnten dramatische Folgen für Länder haben, die das nicht kompensieren können“, sagt Martin Rentsch vom UN-Welternährungsprogramm (WFP – World Food Programme). In Kenia beispielsweise sei Weizen das zweitwichtigste Nahrungsmittel. Das Land selber produziere aber nur zehn Prozent seines Bedarfes. So geht es vielen Ländern in Subsahara-Afrika, Asien, dem Nahen Osten und Nordafrika. Infolge der hohen Preise sieht die FAO (Food and Agriculture Organization) bis zu 13 Millionen Menschen zusätzlich von Hunger bedroht.
Mittelfristig werden die hohen Getreidepreise auch zum Problem für das WFP selbst, das weltweit Menschen in Krisenregionen mit Nahrung versorgt. Aktuell seien die Speicher gefüllt, sagt Rentsch. Muss das WFP aber nachkaufen, bekommt es bei gleichbleibendem Budget weniger Nahrungsmittel. „Entweder wir erreichen dann weniger Leute oder die Leute bekommen jeweils weniger,“ erklärt Rentsch. Das Horrorszenario lautet: Die Rationen von Hungernden müssen gekürzt werden, um Verhungernde vor dem Tod zu retten.
Noch unklar ist derzeit, wie groß das globale Angebot in der kommenden Erntesaison sein wird. Das hängt auch davon ab, ob die ukrainischen Bauern Sommerweizen aussäen können und ob sie im Juni den bereits gesäten Winterweizen ernten können. Hinzu kommt, dass die Europäische Union zum Erhalt seiner Erträge von Dünger aus russischer Produktion abhängig ist. Russland seinerseits ist von Ersatzteilen für landwirtschaftliche Maschinen abhängig, die laut Chemnitz den westlichen Sanktionen unterliegen.
Den Wegfall ukrainischen und russischen Weizens kurz- oder mittelfristig zu kompensieren, erscheint Branchenbeobachtern unmöglich. Zwar habe Australien aktuell eine gute Ernte, aber das reiche bei weitem nicht, sagt Getreidehändler Buchholz. Kaum Einfluss auf die Weltmarktpreise hätte es wohl, wenn die EU Brachflächen für den Anbau von Weizen nutzen würde. Das geht aus einer aktuellen Untersuchung der Heinrich-Böll-Stiftung hervor. Ein Schlüssel zur Entspannung an den Getreidemärkten könnte ein geringerer Fleischkonsum sein, sagt Chemnitz.
Die wichtigste Forderung von Experten ist jetzt, dass die Länder den Handel untereinander aufrechterhalten und sich nicht abschotten. Andernfalls könnte der Preis noch viel extremer nach oben getrieben werden, befürchtet FAO-Ökonomin Monica Tothova. Um die Situation kurzfristig zu entschärfen, fordern Experten Finanzhilfen für besonders gefährdete Länder, damit diese weiterhin Getreide auf dem Weltmarkt kaufen können.
Claudia Isabel Rittel ist Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau.
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