Radikalismus

Tunesien nicht allein lassen

Terrorismus bedroht die einzige Demokratie, die aus dem arabischen Frühling hervorgegangen ist. Tunesische Sicherheitskräfte haben im März den Versuch von ISIS unterbunden, die Stadt Ben Gardane zu erobern. Dennoch braucht das Land mehr Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft und besonders der EU.
Die meisten Tunesier befürworten Demokratie: Unterstützer einer neuen politischen Partei im März 2016. Yassine Gaidi/AA/picture-alliance Die meisten Tunesier befürworten Demokratie: Unterstützer einer neuen politischen Partei im März 2016.

Für Tunesien war 2015 ein blutiges Jahr. Es gab Angriffe auf das Bardo Museum im März, auf ein großes Hotel in Sousse im Juni und die Präsidialgarde in Tunis im November. 2016 hat die Terrormiliz ISIS dann gleich versucht, den Ort Ben Gardane nahe der libyschen Grenze einzunehmen. Das ist sehr beunruhigend. So etwas gab es noch nie.

Zum Glück behielten die Sicherheitskräfte die Oberhand und konnten die Stadt verteidigen. Etwa 50 Terroristen wurden getötet. Es verunsichert aber, dass die Angreifer offensichtlich tunesische Unterstützung hatten und alle, soweit sie bislang identifiziert werden konnten, selbst Tunesier waren. Das wirft ernste Fragen auf. Möglicherweise gibt es weitere Schläferzellen im Land.

Die Angreifer kamen aus Libyen. Die Gewalt, die unser Nachbarland erschüttert, destabilisiert auch unseres. Die Probleme machen nicht an nationalen Grenzen halt und betreffen die gesamte Staatengemeinschaft. Tunesiens im Entstehen begriffene Demokratie ist ein Lichtblick in der arabischen Welt. Das Land verdient mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung. Tunesien ist nicht ausreichend gerüstet. Der Staat braucht unter anderem hochentwickelte Angriffshubschrauber und Nachtsicht-Ausrüstung, um militante Gruppen zurückzuschlagen. Hilfreich wäre auch der internationale Austausch von Geheimdienstinformationen.

Sicherheit beruht aber nicht nur auf Militär. Es kommt auch auf die soziale und ökonomische Lage an. Die wirtschaftliche Rückständigkeit einiger Regionen ist ein riesiges Problem. Dort müssen Chancen und Arbeit entstehen – besonders für die Jugend. Infrastruktur und Wirtschaftszweige müssen entwickelt werden. Ohne entschiedenes Handeln und ausländische Investitionen wird die Arbeitslosigkeit wachsen, die Kaufkraft kleiner werden und soziale Spannungen zunehmen.

In einigen abgelegenen Gegenden tut der Staat zu wenig, und Extremisten nutzen die verbreitete Verzweiflung aus. Sie rekrutieren mit Geld und dem Versprechen eines "besseren Lebens" junge Männer. Sie arbeiten mit Gehirnwäsche, und manche Kämpfer glauben, es gehe um ein "nobles Ziel" und den "wahren Islam". Diese Jugendliche sind die Minderheit – aber eine sehr gefährliche Minderheit.

Die meisten Tunesier sehen ihr Land auf dem richtigen Weg. Sie befürworten Demokratie und freuen sich über größere Freiheit als je zuvor. Bislang geht das aber nicht mit wirtschaftlichem Wohlstand einher. Dass ist ein Problem. Wir dürfen nicht vergessen, dass Arbeitslosigkeit und ökonomisches Leid zur Revolution von 2011 geführt haben.

Demokratischer Wandel erfordert immer Zeit. Menschen denken nicht über Nacht um. Tunesier wollen in ihrem Alltag Fortschritt erleben und sind leere Versprechen leid. Wir brauchen zielgerichtete, langfristige Politik. Die Regierung muss einige dringenden Reformen zügig angehen. Aber um den Herausforderungen gerecht werden zu können, braucht – und verdient – sie internationale Unterstützung.

Beim G8-Gipfel 2011 wurden mehrere Milliarden Dollar für Tunesien zugesagt, aber das Geld ist nicht geflossen. Tunesiens Probleme sind bekannt, aber unsere westlichen Verbündeten tun bisher wenig. Sie sollten einen Marschall-Plan für Tunesien auflegen. Bis zum nächsten Terroranschlag wird unsere Land trotz seiner engen Beziehungen zu Europa oft wieder vergessen.

Tunesien ist der letzte Hoffnungsträger des arabischen Frühlings von 2011 und die letzte Bastion gegen den Terrorismus in Nordafrika. Sollte Tunesien scheitern (Gott behüte!), wird Europa noch größere Probleme bekommen als jetzt. Es ist höchste Zeit, dass die internationale Gemeinschaft Tunesien hilft, seine Wirtschafts- und Sicherheitsprobleme zu lösen. Hilfe für Tunesien ist letztlich Selbsthilfe. Wir brauchen Taten statt Worten.


Tawfik Jelassi ist Professor an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät IMD in Lausanne. Von 2014 bis 2015 war er der Minister für höhere Bildung, wissenschaftliche Forschung und Informations- und Kommunikationstechnik der tunesischen Übergangsregierung.
tawfik.jelassi@imd.org

 

 

 

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