Sommer-Special

Sehnsucht nach einem besseren Leben

In seinem Roman „Verlassen“ erzählt der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun von der Desillusionierung der gebildeten Jugend in Marokko und der Sehnsucht einer ganzen Generation nach einem besseren Leben. Damit gibt er den Flüchtlingen aus Nordafrika ein Gesicht, die massenhaft in die feindliche Festung Europa einreisen wollen. Dieser Beitrag gehört zu unserer Sommer-Spezial-Reihe, in der wir in der Rubrik "In Kürze" Ferienliteratur empfehlen. Von Dagmar Wolf
Flüchtlinge auf dem Mittelmeer. picture-alliance/dpa Flüchtlinge auf dem Mittelmeer.

In der Leichenhalle in Tanger liegen die Körper aufgebahrt, die das Meer wieder ausgespuckt hat. Der Gouverneur  betritt die Halle und echauffiert sich: „Ganz Marokko muss diese Tragödie sehen (…) Genug! Bas­ta! Es reicht! Das muss aufhören, Marokko verliert seinen Saft, seine Jugend! (…) Wir müssen die Grenzen dicht machen!“

Doch auch immer schwerer zu überwindende Grenzen können den Traum von einem besseren Leben nicht zerstören. Wer keine Perspektive im eigenen Land sieht, trotz Diplom in der Tasche keine Aussicht auf Arbeit hat, sucht nach anderen Wegen, der Armut zu entkommen. Allabendlich sitzen die jungen Männer im Café in Tanger, trinken Minztee, lassen die Haschischpfeifen kreisen und starren auf das Meer hinaus. Nur etwa 30 Kilometer trennen sie von der spanischen Küste, deren Lichter man bei schönem Wetter sehen kann. Spanien ist die Projektion ihrer Träume, das gelobte Land.

Azel, der Protagonist des Buches, will unbedingt nach Europa. Davon kann ihn selbst der Tod seines Cousins und Freundes Noureddine nicht abhalten. Dieser ist gerade mit 20 anderen Flüchtlingen ertrunken. Der junge attraktive Jurist Azel, der mit vollem Namen Azz el Arab („Stolz der Araber“) heißt, ist arbeitslos und frustriert. Er sieht trotz Jurastudium keine Arbeits- und Überlebensmöglichkeit in Marokko, landet mehrmals im Gefängnis, ist gewalttätig. „Das Land verlassen. Es wurde zu einer Obsession, einer Art Wahn, die ihn Tag und Nacht beschäftigte. Wie sollte er es schaffen, wie der Demütigung entkommen? Weggehen, diese Erde verlassen, die ihre Kinder verstößt, diesem schönen Land den Rücken zukehren und eines Tages stolz und vielleicht reich zurückkommen (…). Die Obsession wurde bald zum Fluch.“

Azel hat drei Möglichkeiten: sich Schleppern anzuvertrauen, die ihn um seine Ersparnisse bringen, ohne die Überfahrt zu garantieren; sich islamistischen Organisa­tionen anzuschließen, die Arbeit und Reisen versprechen, seinen Freund Mohamed-Larbi aber in ein pakistanisches Ausbildungslager geschickt haben; oder einen reichen, europäischen Gönner zu finden. Er entscheidet sich für Letztes, als ihm der 60-jährige homosexuelle Galerist Miguel über den Weg läuft.

Miguel verliebt sich in Azel, verschafft ihm Papiere, nimmt ihn mit nach Barcelona. Miguel konvertiert sogar zum Islam und geht eine Scheinehe mit Azels Schwester Kenza ein, um auch ihr zu einem besseren Leben zu verhelfen. Der Preis, den Azel zahlt, ist eine Liebschaft mit Miguel. Azel findet nicht das Glück, das er sich erträumt hatte. Er verliert sich mehr und mehr in einer Depression. Er glaubt durch die Beziehung zu Miguel seine Männlichkeit und Würde zu verlieren. Er betrügt und bestiehlt Mi­guel, worauf dieser ihn verstößt. Die Hölle aus Armut, Korruption und Demütigung, die Azel in Marokko hinter sich gelassen hat, erweist sich nur als Spiegelbild der anderen Hölle, die ihn erwartet: Einsamkeit, Prostitution und Verlust der Würde.

Erneut verfällt Azel den Drogen und dem Alkohol, dealt mit Rauschgift. Als er von der Polizei erwischt wird, bietet er sich als Spitzel an, um nicht nach Marokko abgeschoben zu werden. Er verrät einen Anwerber für eine extremistische, islamistische Gruppierung in Spanien, zu dem er Kontakt hatte.

Jeder hat das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, so steht es im Artikel 25 der UN-Menschenrechtsdeklaration. Doch immer mehr Menschen bleibt das Recht darauf versagt. Viele kämpfen darum, ihren Traum von einem besseren Leben zu verwirklichen, und scheitern dabei oft. Der Roman „Verlassen“ spielt in den 1990er Jahren. Er hat leider nichts an Aktualität eingebüßt.

Der 1944 in Fès geborene Autor Tahar Ben Jelloun gilt als Brückenbauer für den interkulturellen Dialog und als einer der bedeutendsten Vertreter der französischsprachigen Literatur im Maghreb.

Dagmar Wolf

Literatur:
Tahar Ben Jelloun, 2008: Verlassen. Berlin: Taschenbuch Verlag.