Psychologische Probleme
Pathologisiertes Leid
Von Floreana Miesen
Psychische Krankheiten nehmen zu. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass Depressionen im Jahr 2020 die zweitgrößte Ursache des „global burden of disease“ sein werden. Das betrifft vor allem arme Länder, in denen soziale Unsicherheit, Ungleichheit und Gewalt herrschen.
Die Psychologin Marta Cabrera aus Nicaragua fordert, humanitäre Organisationen müssten kulturelle Wurzeln psychischer Probleme verstehen und berücksichtigen. In Lateinamerika führe zum Beispiel der Machismus zu unterbewussten Angststörungen bei Frauen. Die sorgfältige Analyse lokaler Stärken und Ressourcen sei für die Traumaarbeit nach Gewaltkonflikten essentiell. Aus Cabreras Sicht sollte psychosoziale Arbeit Menschen politisch stärken und sie zu Veränderung aus eigener Kraft befähigen.
Auch aus Sicht des Medizinethnologen Stefan Ecks von der University of Edinburgh muss psychische Gesundheit kultursensibel betrachtet werden. Die WHO halte dagegen psychische Krankheiten für universal behandelbar. Laut WHO fehlen in den 140 ärmsten Ländern der Erde rund 1,4 Millionen psychologisch kompetente Fachkräfte. Ecks hält diese Daten für fragwürdig, da sie auf teilweise schlichten und nicht repräsentativen Studien beruhen.
Ecks beanstandet unter anderem, dass die WHO mit Daten nationaler Gesundheitsministerien arbeite. Das funktioniere in Großbritannien, aber nicht in Ländern wie Indien, wo keine Daten über traditionelle, kulturspezifische Gesundheitspraktiken vorlägen. Statistiken, die in einem kleinen abgelegenen Dorf erhoben und dann auf ein ganzes Land übertragen werden, führen laut Ecks zu „absurden Schlussfolgerungen“. Die WHO brauche eine solidere wissenschaftliche Basis.
Darüber hinaus beachtet die WHO laut Ecks nicht, dass die Verschreibungsbereitschaft für Psychopharmaka weltweit stark zunimmt. Vor allem in ärmeren Ländern vermittelt die Pharmaindustrie, ihre Produkte hätten keine Nebenwirkungen. Allgemeinärzte verschreiben routiniert starke Medikamente, ohne den Patienten darüber aufzuklären, dass es sich beispielsweise um Antidepressiva handelt. Der Preiskampf der Branche führe zu günstigem Zugang zu Medikamenten – aber gründliche Psychotherapien wären oft die bessere Alternative. Psychotherapie ist freilich auch ein westliches Konzept.
Innere Unruhe
Psychische Probleme und Globalisierung waren Gegenstand einer Tagung, die medico international im Mai in Frankfurt am Main veranstaltete. Aus Sicht dieser zivilgesellschaftlichen Organisation wird Individuen immer mehr Eigenverantwortung abverlangt, so dass das Gefühl sozialer Sicherheit erodiert. Deshalb nähmen innere Getriebenheit und Erschöpfung zu. Die Überforderung durch ständige Überlebenskonkurrenz empfänden viele Menschen als privates Versagen, weshalb psychische Krankheiten zunähmen. Zugleich setzten die Vermarktungsinteressen der Pharmaindustrie und neurowissenschaftliche Kategorisierungen westliche Vorstellungen weltweit durch.
Usche Merk von medico nimmt dabei humanitäre Organisationen von der Kritik nicht aus. Ihr Engagement in Katastrophengebieten setze sich nicht mit den kulturellen und politischen Hintergründen auseinander, sondern ziele oft auf PR-Wirkung in Geberländern ab. Dabei entstehe regelmäßig ein unkontrollierter Markt für Experten, die dem Unglücksort ein Sammelsurium von kontextunabhängigen Therapiekonzepten aufzwängen. Gewalt- und Katastrophenopfer würden so zu Versuchsobjekten neuer Methoden und neurologischer Studien. Viele Therapeuten seien mit der örtlichen Kultur nicht vertraut, oft beherrschten sie auch die Sprache nicht. Gute professionelle Praxis erfordere aber Partizipation, sagt Merk.
Laut medico-Sprecherin Katja Maurer „flüchtet“ die Traumabehandlung in die Hirnforschung. Pharmatherapien, generalisierende Statistiken und die ständige Diskussion über das Trauma externer Helfer seien reine Vermeidung des Dialogs. Ständige Redefinitionen psychischer Krankheiten durch Psychiaterverbände führen zu konstruierten, fragwürdigen Diagnosen. Die Herausforderung sei es, strittige Studien zu widerlegen und kooperierende psychosoziale Hilfe einzuleiten, urteilt Maurer.
Floreana Miesen