Entwicklung und
Zusammenarbeit

Gendergerechtigkeit

Wie Indiens junge Frauen Sicherheit und Selbstvertrauen zurückgewinnen

In Indien lehrt die Bewegung Red Brigade Mädchen, wie sie sich verteidigen und Verantwortung übernehmen. Was mit Selbstverteidigung begann, hat sich zu einer landesweiten Bewegung für Sicherheit, Selbstvertrauen und Führungsstärke von Frauen entwickelt.
Gewalt gegen Frauen ist in Indien ein immer wiederkehrendes Problem. Im August gingen Demonstrant*inen in Kalkutta auf die Straße, nachdem eine junge Ärztin vergewaltigt und ermordet worden war. picture alliance/Middle East Image /Debajyoti Chakraborty
Gewalt gegen Frauen ist in Indien ein immer wiederkehrendes Problem. Im August gingen Demonstrant*inen in Kalkutta auf die Straße, nachdem eine junge Ärztin vergewaltigt und ermordet worden war.

Die zierliche 17-jährige Schülerin Shruti wurde von Selbstzweifeln geplagt, als sie zu einem dreitägigen Selbstverteidigungstraining in Lonavala kam, einer Stadt im indischen Bundesstaat Maharashtra. Ihre Familie hatte sie so lange als schwach abgetan, dass sie es selbst verinnerlicht hatte. Am ersten Tag war Shruti noch ruhig, begann sich aber langsam zu beteiligen. Am Ende des Kurses hatte sie alle Selbstverteidigungsgriffe souverän einstudiert und erklärt: „Was andere Mädchen können, die hier sitzen, das kann ich auch.“ 

Nur wenige Tage zuvor war Shruti noch in der Schule ohnmächtig geworden. Jetzt stand sie aufrecht vor ihren Altersgenoss*innen. In vielerlei Hinsicht verkörpert sie damit die Mission der bekannten indischen Bewegung und zivilgesellschaftlichen Organisation Red Brigade Lucknow: Es geht darum, Angst in Glauben zu verwandeln und Schweigen in Stärke. Die Organisation mit Sitz im indischen Lucknow stärkt Frauen durch Selbstverteidigungskurse.  

Red Brigade wurde 2011 von der Inderin Usha Vishwakarma gegründet, nachdem sie einen Vergewaltigungsversuch überlebt hatte. Was als Akt des Widerstands und der Heilung begann – am Anfang führten 15 junge Frauen Straßentheaterstücke über Missbrauch und Belästigung auf – hat sich mittlerweile zu einer Bewegung für die Sicherheit und Würde von Frauen in Indien entwickelt. 

Die Arbeit der Gruppe gewann neue Dringlichkeit nach einer Gruppenvergewaltigung in Delhi im Jahr 2012. Damals suchten Frauen in ganz Indien nach Wegen, sich zu schützen und zu stärken. Red Brigade weitete seine Mission deshalb von Protesten auf strukturierte Trainingsprogramme aus und schuf so einen Raum zur körperlichen und psychischen Genesung. 

In Indien ist geschlechtsspezifische Gewalt nach wie vor weit verbreitet, und Frauen werden oft durch soziale und kulturelle Normen zum Schweigen gebracht. Daten aus den Jahren 2019 bis 2021 zeigen, dass fast jede dritte Frau in Indien schon einmal körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt hat, und vielen Mädchen wird immer noch beigebracht, still zu sein und zu Hause zu bleiben. Angesichts dessen geht es bei den Selbstverteidigungskursen nicht nur um persönlichen Schutz, sondern auch darum, Selbstvertrauen und Würde zurückzuerlangen. 

Lernen zu kämpfen

Mit der Zeit wurde bei den Trainingseinheiten von Red Brigade deutlich, dass konventionelle Selbstverteidigungsmethoden Überlebenden im Ernstfall oft nicht geholfen haben. Die Gruppe entwickelte daher Nishastr Kala, eine Technik zur unmittelbaren Reaktion auf einen Angriff, um zu überleben. Frauen, die Gewalt erlebt haben, entwickelten den Ansatz gemeinsam mit Kampfkunstexpert*innen aus Indien, Frankreich und Australien. Wirksame Techniken sind darin wichtiger als Rituale. Mehr als 250.000 Mädchen wurden seitdem in Schulen und Dörfern ausgebildet und haben nicht nur gelernt zu kämpfen, sondern auch, an ihre eigene Widerstandsfähigkeit zu glauben. 

Im Laufe der Zeit erkannte Vishwakarma allerdings, dass Sicherheit allein die eingefahrenen Geschlechterhierarchien nicht abbauen kann. „Schutz ist der erste Schritt“, sagt sie, „aber wenn Frauen nicht dort sitzen, wo Entscheidungen getroffen werden, ändert sich nichts wirklich.“  

Ihre Überzeugung führte schließlich zur Gründung von Veerangana Vahini – einer „Armee mutiger Frauen“, die sich auf die Förderung junger weiblicher Führungskräfte konzentriert. Die Organisation ist in 20 Distrikten im Bundesstaat Uttar Pradesh tätig, in dem es um die Gleichstellung der Geschlechter schlecht bestellt ist. Sie organisiert dort Diskussionen über Sicherheit, Bildung, Unabhängigkeit und Regierungsführung; Zielgruppe sind Frauen im Alter von 18 bis 25 Jahren. Die Dialoge, glaubt Vishwakarma, seien letztlich der Nährboden für Veränderung. Nur durch den vertieften Austausch könnten die Gedanken sich entfalten, meint sie.

Die Auswirkungen sind bereits sichtbar. Bei einer Leadership-Konferenz in diesem Jahr erklärten mehr als tausend junge Frauen aus ganz Uttar Pradesh: „Ich bin bereit, zu führen.“ Einige von ihnen, die aus Bauernfamilien, Dalit-Gemeinschaften und anderen marginalisierten Kasten stammen, streben nun danach, Pradhan (Dorfvorsteherin) zu werden oder Mitglieder der gesetzgebenden Versammlung – beides Rollen, die lange Zeit von Männern dominiert wurden. 

Die Bewegung fordert auch die Macht der Pradhan Pati heraus, der „nicht gewählten Ehemänner“, die oft hinter den Kulissen die Fäden ziehen und inoffiziell Autorität ausüben. Sie untergraben damit die Führungsrolle ihrer Frauen, die zu Dorfvorsteherinnen gewählt wurden. In einem Dorf inspirierte die Rede eines jungen Dalit-Mädchens die örtliche Pradhan dazu, ihren Mann zur Rechenschaft zu ziehen. Kurz darauf stürmte er in das Büro der Organisator*innen und fragte wütend: „Was bringen Sie meiner Frau bei?“ 

Was Veerangana Vahini lehrt, scheint einfach, aber radikal zu sein: Wenn Frauen an die Spitze gewählt werden, sind sie es auch, die die Entscheidungen treffen. 

Roli Mahajan ist Journalistin und lebt in Lucknow, Indien. 
roli.mahajan@gmail.com 

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