Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Grundbildung

Iskay Yachay – zweifache Bildung

In den peruanischen Anden sorgen Dorfgemeinschaften dafür, dass Grundschüler nicht nur mit städtischen Normen und Kulturtechniken, sondern auch mit ihrer eigenen ländlichen Lebenswelt vertraut gemacht werden. Die unabhängige Organisation PRATEC hilft, mit diesem Ansatz den Bildungserfolg zu verbessern.


[ Von Grimaldo Rengifo ]

Indianische Kleinbauern in Peru schickten ihre Kinder jahrelang zur Schule, „damit sie nicht so werden wie wir.“ Eine gängige Schulweisheit verkündete: „Wenn du Mathe nicht kapierst, wirst du mit Ha­cke und Machete auf dem Acker enden“. In den Anden hatten die Befürworter von „Entwicklung“ in den vergangenen Jahrzehnten ein Bild kultureller Homogenisierung und gesellschaftlichen Aufstiegs durch Bildung und Abwanderung in die Stadt in den Köpfen der Menschen verankert. Die Dorfschulen trugen dazu bei – oft galt der Lehrer als „Agent des Fortschritts“.

Doch die Hoffnung trog. In den 80er Jahren begann ein Zyklus von wirtschaftlichen, ökologischen und gesellschaftlichen Krisen. Nur wenigen Menschen gelang tatsächlich der erhoffte soziale Aufstieg. Stattdessen prägen auch heute noch wachsende wirtschaftliche Marginalisierung und kulturelle Entwurzelung den Lebensalltag im ländlichen Raum.

Ende der 90er Jahre begannen Mitglieder der Landbevölkerung und dort verankerte unabhängige Organisationen umzudenken. Für ihr Verständnis von Entwicklung gewannen Subsistenzwirtschaft, gemeinschaftliche Strukturen gegenseitiger Hilfe und der Bezug auf lokales Wissen und Know-how wieder an Bedeutung. Das schützende Netzwerk der Gemeinschaft wird als wichtiger empfunden als das vage Fortschrittsversprechen.

Elternwünsche

Entsprechend ändert sich auch die Wahrnehmung dessen, was Grundbildung leisten soll. Studien aus den vergangenen zehn Jahren belegen, dass in den Andenstaaten die Mehrheit der Schüler die Grundschule verlässt, ohne ein Minimum an kognitiven und nicht-kognitiven Fähigkeiten zu beherrschen. In der Regel verlassen Kinder in Peru die Grundschule, ohne Texte, die sie Buchstabe für Buchstabe lesen können, wirklich zu verstehen. Wer nach den Gründen sucht, stößt auf monokulturelle Lehrpläne, schlecht ausgebildete Lehrer und die fehlende Einbettung des Unterrichts in Kultur und Sprachen der Andenbewohner.

Umfragen der unabhängigen Organisation PRATEC (Proyecto Andino de Tecnologias Campesinas – Andines Projekt für Bauernfähigkeiten) haben gezeigt, was viele Eltern von den Dorfschulen halten:
– „Unsere Kinder gehen von der Schule ab, ohne richtig Spanisch lesen und schreiben zu können.“
– „Sie haben den Respekt gegenüber unserer Kultur verloren.“
– „Sie finden nirgends einen Job, der sie ernährt.“
– „Anstatt etwas Nützliches zu lernen, verlernen unsere Kinder wichtige Dinge, wie etwa den Respekt gegenüber den Älteren und die Verbundenheit mit der Mutter Erde.“
– „Sie schämen sich, ihre Muttersprache zu sprechen und an den Aktivitäten der Gemeinde teilzunehmen.“

Hier setzt die Arbeit von PRATEC in sechs peruanischen Hochlanddepartements an. Sie baut auf die Unterstützung durch örtliche NGOs. In der ersten Phase wurden von 2002 bis 2004 an 30 Dorfschulen Maßnahmen zur Förderung der agrobiologischen Vielfalt und der kommunalen Ernährungshoheit gestartet.

Seit 2002 können in Peru 30 Prozent des Lehrplans schulspezifisch vor Ort definiert werden. Diese Möglichkeit wurde systematisch genutzt. Schon bald wurden erste eigene Lehrmaterialien erstellt. Unter Anleitung von PRATEC und zum Teil in Kooperation mit Bildungsbehörden wurden an einigen Schulen Diskussionsgruppen gebildet, um Erfahrungen systematisch zu sammeln und auszuwerten.

Auch skeptische Lehrer erkannten schnell den Sinn von Schulgärten, Saatgut- und Heilkräutermessen oder Töpfereikursen. Die Schüler fühlen sich ernst genommen und nehmen mit mehr Engagement am Unterricht teil. Lokale Wissensträger wurden in die Schule geholt. Die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern sowie die Unterrichtsatmosphäre überhaupt verbesserten sich – und die Lernergebnisse auch.

Gegen Ende der ersten Projektphase entwickelte sich hieraus ein eigenständiges Konzept: Iskay Yachay. Auf Ketschua bedeutet das „Zweifaches Wissen“. In den Aymaragebieten wird der entsprechende Begriff Paya Yatiwi verwendet. Gemeint ist die Wende von der monokulturellen zur plurikulturellen Bildung. Im Schulunterricht soll das lokale Wissen gleichberechtigt neben den universellen Erkenntnissen stehen, ohne dass das eine das andere diskriminiert und ausgrenzt.

Iskay Yachay geht weit über jene Ansätze zweisprachiger Erziehung – wie etwa die in Peru übliche Educación bilingüe intercultural – hinaus. Solche Ansätze instrumentalisieren meist die lokale Kultur, um die „moderne“ Botschaft effektiver zu vermitteln. Ältere Mitglieder der Dorfbevölkerung kritisieren das, denn sie vermissen den fehlenden Respekt vor den Werten und Verhaltensweisen der indigenen Traditionen.

Das neue Konzept will nicht nur zwei Sprachen, sondern auch die dazugehörigen Denk- und Lebensweisen vermitteln. Die Schule soll dem Nachwuchs eine Lebenswelt und Unterhalt sichernde Orientierung geben. Aus Sicht der Eltern kommt es auf drei Dinge an:
– Respekt gegenüber der älteren Generation,
– gute Kenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen sowie
– das Erlernen praktischer, im Dorfleben relevanter Tätigkeiten.

Langfristig geht es sogar um mehr, nämlich die Versöhnung von Schule und Gemeinde. Bildung kann dazu beitragen, drei regelmäßig auftretende Konfliktthemen zu entschärfen:
– Spannungen zwischen den Generationen,
– den Verlust der Biodiversität und Nahrungshoheit sowie
– „religiöse“ Konflikte zwischen den Mitgliedern evangelikaler Sekten und der andinen Kosmovision.

Das waren denn auch die Themen der zweiten Projektphase von 2005 bis 2007. Involviert waren 49 dörfliche Grundschulen mit mehr als 1400 Schülern und 150 Lehrern.

Biologische Vielfalt

Die Erfahrung zeigt, dass die Rückbesinnung auf traditionelle Überlebensstrategien, die auf hoher Diversität von Nutzpflanzen beruhen, auch das Verhältnis zwischen den Generationen verbessern kann. Die „grüne Revolution“ hat einen dramatischen Verlust an Artenvielfalt bei für die Andenbevölkerung wichtigen Nahrungsmitteln bewirkt: Kartoffel, Mais, Quinua, Kiwicha, Oca, Olluco, Tarwi. In der klimatisch und topographisch abwechslungsreichen Gebirgsregion wurden agrarische Risiken traditionell immer mit verschiedenen Kulturpflanzen reduziert. Wenn die Ernte einer Sorte schlecht ausfiel, konnte der Schaden durch den Ertrag anderer Sorten ausgeglichen werden.

In den Schul- und Familiengärten gilt dieses Prinzip heute wieder. Dabei geht die praktische Arbeit einher mit der Aufwertung alter Rituale, die eine gute Ernte bringen und den Respekt vor der Mutter Erde in der jungen Generation verankern sollen. Der örtlich definierte Lehrplan nimmt lokale Gerichte und Essensge­pflogenheiten auf. Auf Fette, Trockenmilch und Weizenmehl, die über staatliche Programme geliefert werden, wird immer häufiger verzichtet.

Die Einbeziehung älterer, sachkundiger Männer und Frauen, die sich mit der Natur (Heilpflanzen zum Beispiel) auskennen, hat den Respekt zwischen den Generationen verbessert. Die Kinder schämen sich nicht mehr, traditionelle Kleidung zu tragen und ihre Muttersprache zu sprechen. Sie grüßen die Älteren wieder.

Lesen und Schreiben

Die Eltern legen aber auch Wert auf moderne Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben. Sie wissen, dass die spanische Schriftsprache für den Austausch mit der modernen, städtischen Gesellschaft notwendig ist – und dass sie die Grundvoraussetzung für das Erlernen anderer Schulfächer bildet.

Ein wesentlicher Grund des vielfach schlechten Sprachverständnisses peruanischer Kinder ist die Lebensferne der Schulbücher. Sie haben in der Regel nichts mit der ländlichen Welt zu tun. Zwar gibt es seit 2002 die Möglichkeit des „lokalen Kurrikulums“, aber dies wird von den Lehrern so gut wie nicht genutzt, da sie nicht entsprechend aus- oder fortgebildet sind. Mehrsprachige und besser ausgebildete Lehrer werden gebraucht.

Zusammen mit der Agraruniversität von Tingo Maria entwickelte PRATEC einen Aufbaustudiengang „Interkulturelle Erziehung und nachhaltige Entwick­lung“. Aus jedem Projektdistrikt nahmen im ersten Durchgang zehn Lehrer teil. Sie richteten im Anschluss Studienzirkel für alle Kollegen ein, die liebevoll mit der lokalen Kultur umgehen wollen. Die sechs Zirkel haben heute mehr als 100 Mitglieder. Sie bilden eine wichtige Basis für die weitere Arbeit. Mehrere Lehrer kamen auch in den Genuss staatlicher Studienstipendien.

Im Dialog zwischen Dorfbevölkerung und Schulen entstand unter anderem auf den Lebensrhythmus der Gemeinde einein „Kulturkalender“. Er stimmt den Lehrplan auf den Lebensrhythmus der Gemeinde ein – entsprechend den wichtigsten landwirtschaftlichen Tätigkeiten, astronomisch-klimatischen Ereignissen und den dazugehörigen Dorffesten. Heute muss kein Kind mehr Unterricht schwänzen, um in der Erntezeit im elterlichen Betrieb mitzuhelfen. Evaluierungen und Auswertungen von PRATEC und des deutschen Partners terre des hommes zeigen, dass die im Sinne von Iskay Yachay unterrichteten Kinder den Unterrichtsstoff besser verstehen und bessere Noten erzielen.

Nützliche Fähigkeiten

Die dritte Forderung der Eltern betrifft die Praxisrelevanz des Unterrichts. Sie kritisieren die Überbetonung der kognitiven Fähigkeiten, denn ihrer Erfahrung nach sitzt Wissen auch in der Hand – und nicht nur im Kopf. Normalerweise beherrschen die älteren Frauen und Männer zahlreiche Handwerke. Neben den rein landwirtschaftlichen oder haushalterischen Tätigkeiten sind dies traditionelle Fertigkeiten wie Weben, Töpfern, Färben et cetera. Darüber hinaus können fast alle ein Instrument spielen, tanzen und singen.

Für die Schulabgänger in Peru gilt all das immer seltener. Lehrpläne nach dem Iskay-Yachay-Modell gehen darauf ein. Im letzten Projektjahr wurden so für alle 49 Grundschulen lokale, diversifizierte Kurrikula ausgearbeitet. Als Grundlage dafür stellten Großeltern, Eltern und Lehrer 127 Faltblätter zusammen, die solche Tätigkeiten und Künste erläutern und dokumentieren.

Iskay Yachay gibt der Gemeinde, den Kindern und den Lehrern ein neues Selbstvertrauen. Der soziale Wert von Schule ist gestiegen, sie erfährt eine höhere Akzeptanz durch die Gemeinschaft. Dank der mehrsprachigen Materialien und ihrer hohen Qualität und Originalität (zwei Videos gewannen internationale Preise) zeigen staatliche Erziehungsbehörden und auf interkulturelle Bildung spezialisierte NGO wachsendes Interesse am Konzept des „zweifachen Wissens“ und den Erfahrungen des PRATEC-Netzwerks.

Über die Einbindung der regionalen Vertretungen des Erziehungsministeriums (PER) konnten in einigen Regionen (San Martín, Ayacucho, Cusco, Puno) erste Reformen der staatlich vorgegebenen Kurrikula eingeleitet werden. Langfristig wünschenswert sind eine inklusive, pluralistische Bildung und ein Lehrplan, der sich partizipativ und praxisorientiert der lokalen, vielfältigen Lebenswelt anpasst. Im Land entworfene und gedruckte Schulbücher sollten die Regel, die Lehreraus- und -fortbildung verbessert werden.

Über regionale Netzwerke, Publikationen und Fortbildungsangebote findet das Iskay-Yachay-Konzept auch in den Nachbarländern Bolivien, Ekuador, Chile und im nördlichen Argentinien Interesse und Unterstützung. Das Local and Indigenous Knowledge System (LINKS)-Programm der UNESCO versucht die konzeptionellen Überlegungen und Projekterfahrungen von PRATEC über den spanischsprachigen Raum hinaus zu verbreiten.