Humanitärer Diskurs
Die Nexus-Gefahr
Über 80 Prozent der humanitären Hilfe findet in Kriegen und Konflikten statt. In diesen gibt es von fast allem zu viel. Das macht die Sache politisch kompliziert. Zu viele beteiligte Parteien, zu viel Konfliktdynamik und zu viel externe Einmischung. Ein Beispiel ist Syrien: Nach über sieben Jahren hat das Assad-Regime den Krieg militärisch dank russischer und iranischer Unterstützung so gut wie gewonnen. Das Resultat ist allerdings keine politische Lösung des Konfliktes, sondern eine Friedhofsruhe und andauernde humanitäre Not. Ähnlich komplexe Situationen finden sich in einer Reihe von anderen Ländern, zum Beispiel im Jemen, im Südsudan oder in der Demokratischen Republik Kongo.
Aus humanitärer Perspektive ist die Lagebewertung einfacher: Zu viele Menschen sterben, zu viele sind unterversorgt. Die Frage, wie Hilfe besser gestaltet werden kann, gehört daher zur humanitären Routine. Der Humanitäre Weltgipfel von 2016 hatte verschiedene Antworten parat. Eine davon lautete: eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen den Bereichen humanitäre Hilfe, Entwicklung und Frieden – kurz „Nexus“. Das klingt in der Kürze gut, sollte humanitäre Akteure aber misstrauisch machen.
Humanitäre Hilfe – was ist das eigentlich noch?
Humanitäre Hilfe war noch bis Ende des 20. Jahrhunderts von einer Logik der Wohltätigkeit und des Gebens geprägt. Konfessionsübergreifende Barmherzigkeit war ein Leitmotiv. Hilfsprogramme bekämpften die Symptome, nicht die Ursachen. Sie retteten Leben. Nicht mehr und nicht weniger.
Anfang des 21. Jahrhunderts änderte sich dann die Mitgefühlslogik. Nicht nur aus Frustration über immer wiederkehrende Hilfe und die zwanzigfache Aneinanderreihung von den gleichen Ein-Jahres-Projekten in den gleichen Ländern, sondern auch aus einem neuen Verständnis heraus. Humanitäre Hilfe sollte fortan rechtebasierter sein; aus „Opfern“ wurden „Rechteinhaber“. Die humanitäre Hilfe musste sich nun mit zusätzlichen Themen wie Stärkung von lokalen Gruppen, Durchsetzung von Rechten und einer allgemeinen Solidaritätsagenda beschäftigen. Der Anspruch an die Wirksamkeit von Hilfe war inzwischen so groß, dass er nicht mehr allein durch das Mandat der humanitären Hilfe zu erfüllen gewesen wäre. Der seit Ende der 1980er Jahre diskutierte LRRD-Ansatz (Linking Relief, Rehabilitation and Development) gewann so neue Fahrt. Dieser propagierte – wie der Nexus – die Verknüpfung von kurzfristiger Soforthilfe mit langfristig angelegten Entwicklungsmaßnahmen.
Dass dabei humanitäre Prinzipien wie Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität Risse bekamen, war sozusagen der Kollateralschaden des LRRD-Ansatzes. Denn viele dieser Zusatzagenden, denen sich die humanitäre Hilfe bemächtigte, vertrugen sich nicht mit der Grundidee der humanitären Hilfe, die systemverändernde Aktionen bewusst außer Acht ließ. So bekamen mittelfristige Betrachtungen die Oberhand über das eigentliche Primat rascher, lebensrettender Maßnahmen.
Zeitlich parallel dazu geriet die humanitäre Hilfe immer stärker unter einen Rechtfertigungszwang. Aus einer Vertrauenskultur wurde eine Kontrollkultur, die zusätzliche Komplexität zur Folge hatte und dass Hilfe tendenziell da stattfindet, wo sie „einfach“ ist.
Zu viel Komplexität
Der Humanitäre Weltgipfel fand 2016 unter dem Eindruck vieler Katastrophen statt, bei denen politische Lösungen in weiter Ferne lagen. Die Debatte um die Verbindung von humanitärer Hilfe und Entwicklungsarbeit entfachte sich nicht nur neu, sondern sie wurde auch noch um den Begriff „Frieden“ erweitert. Aus einem Doppel-Nexus wurde so ein Dreifach-Nexus. Dem Silodenken und -handeln der verschiedenen Akteure sollte ein Konzept entgegengesetzt werden, das Not schneller beendet, statt ständig neue Hilfszyklen aufzulegen. Besonders im Fokus standen fragile Staaten und Konfliktländer.
Die Logik ist wie folgt: Entwicklung fördert Frieden, und humanitäre Hilfe kann Entwicklung befördern. Folglich sollen Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe und Friedensarbeit eng verzahnt sein und Synergien maximiert werden. Geber und multilaterale Organisationen sollen sich verpflichten, effektive Abstimmungsmechanismen einzuführen sowie neue Wege der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren zu etablieren.
Theoretisch sieht dieses Heilsversprechen auf den ersten Blick gut aus. Doch es gibt aus der humanitären Praxis drei wesentliche Gründe, skeptisch zu sein:
- Erstens: Wenn sich die Prinzipien schon kaum mit dem LRRD-Ansatz vertragen, wie soll dann ihre halbwegs glaubhafte Wahrung im Dreifach-Nexus stattfinden? Denjenigen, die im Machtbesitz sind, muss glaubhaft versichert werden können, dass es den humanitären Akteuren nur um die Rettung von Menschenleben geht und um nichts anderes. Der wichtigste Zugangscode zu Menschen in Not lautet Vertrauen. Misstrauen kommt dagegen auf, wenn die humanitäre Hilfe gleichzeitig mit Ursachenbekämpfung, der Stärkung nationaler Strukturen, der Friedensförderung und einer Sicherheitsagenda in enge Verbindung gebracht wird. Sprich: Der Nexus beraubt die humanitäre Hilfe um ihre Alleinstellungsmerkmale. Das Neutralitätsprinzip zum Beispiel kann nicht funktionieren, wenn gleichzeitig an Entwicklung und Frieden gedacht werden muss. Nicht ohne Grund hat sich die humanitäre Hilfe in klarer Abgrenzung zu anderen Handlungsfeldern definiert.
- Zweitens: Das „Alles-hat-mit-allem-zu-tun-Denken“ hat in der Praxis eine fatale Lenkungswirkung für die humanitäre Hilfe. Am Ende entscheidet nicht mehr die Not allein über den Start von Hilfsmaßnahmen, sondern die Perspektive, dass Maßnahmen in eine größere Agenda eingebettet werden können. Statt schnelle Hilfe zu planen, wird erst einmal analysiert, koordiniert – und am Ende prokrastiniert, weil man nicht drei Dinge auf einmal tun kann. Schnelle Hilfe ist auch eine Frage des ökonomischen Anreizsystems. Die meisten humanitären Organisationen brauchen nicht nur Spenden, sondern auch Gebermittel, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Das funktioniert mit langfristigen, multidimensionalen Maßnahmen am besten. Wenn die humanitären Geber nun allzu einverständig auf den Nexus-Zug aufspringen, wird diese Logik weiter bedient, statt Anreize für schnelle, kurzfristige Hilfe zu schaffen. Die humanitäre Hilfe sollte sich daran messen lassen, wie sie Menschen rettet, nicht daran, wie viele Nebengeschäfte sie bedient. Entwicklungsvokabularien wie Impact, Evaluation, Monitoring, Cross-Cutting, Resilience, Output, Outcome und andere lenken von der eigentlichen Aktion zunehmend ab und bleiben Kopfgeburten, wenn Hilfe erst gar nicht stattfindet, weil sie zu kompliziert geworden ist.
- Drittens: Der rasante finanzielle wie inhaltliche Aufwuchs der humanitären Hilfe in der vergangenen Dekade zeigt vor allen Dingen eins, nämlich die Abwesenheit politisch-diplomatischer Lösungen für Krisen und Konflikte. Jedem „Erfolg“ der humanitären Hilfe liegt ein Misserfolg der Politik zugrunde. Die Gefahr ist, dass der Nexus als großer „Reparaturbetrieb“ mangelnde politische und diplomatische Durchsetzungsfähigkeit weiter kaschiert.
Was also tun? Der Gedanke, statt ständig neuer Hilfszyklen Not zu beenden und sie am besten erst gar nicht entstehen zu lassen, ist vollkommen richtig. Ebenso richtig ist, dass humanitäre Hilfe nicht in einem Vakuum stattfindet und nicht blind gegenüber ihren positiven wie negativen Wirkungen sein darf. Auch Ethik und Moral gebieten uns, dass wir für das langfristige Gesamtwohl der Menschen Sorge tragen müssen.
Doch leider entfernt sich die Diskussion um den Nexus immer weiter von den humanitären Realitäten, für die die oben genannten Krisen exemplarisch stehen. Gerade dort muss Hilfe schnell und unbelastet von großen, konzeptionellen Nexus-Aspirationen geleistet werden. Sie wird es aber oft nicht. In schwierigen Situationen muss Komplexität reduziert werden, nicht erhöht. Die humanitäre Hilfe in ihrer Urform macht dafür ein bestechendes Angebot. Sie konzentriert sich auf nichts anderes als auf die Linderung von Leid und das Retten von Menschenleben. Politische Abstinenz bei der Planung, Durchführung und Bereitstellung von Hilfe bewahrt sie davor, Teil der politischen Agenda von kriegsteilnehmenden Gruppen zu werden und sich von politischen Interessen leiten zu lassen statt von der Not der Menschen auf beiden Seiten eines Konflikts.
Daher würde eine Rückbesinnung auf die ursprüngliche Geisteshaltung der humanitären Hilfe vielen Menschen in akuter Not mehr bringen als die Nexus-Debatten an den Konferenztischen in New York, Genf und Brüssel. Es spricht nichts dagegen, das Zusammenwirken von humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Frieden dort, wo es möglich ist, sinnvoll und planerisch zu gestalten, und zwar mit erhöhtem politisch-diplomatischen Aufwand. Die Priorität der humanitären Hilfe muss aber eine andere sein: nämlich die, Leben zu retten – und sei es aus bloßer Barmherzigkeit.
Sid Johann Peruvemba ist Vize-Generalsekretär und Programmdirektor von Malteser International.
sid.peruvemba@malteser-international.org