Interview

Truppen gehen, die EU bleibt

Auch in Ländern, wo Krieg und Gewalt herrschen, muss Europa bereit sein, Hilfe zu leisten, sagt EU-Entwicklungskommissar Andris Piebalgs. Mit dem lettischen Spitzenpolitiker sprachen Hans Dembowski und Peter Hauff.


Interview mit Andris Piebalgs

Viele Länder, die EU-Hilfe empfangen, befinden sich im Krieg oder sind fragile Staaten. Ist dort sinnvolle Entwicklungspolitik möglich?
Welchen Effekt unsere Maßnahmen in solchen Ländern haben, ist eine gute Frage. Meine Antwort lautet, dass wir entwicklungspolitische Ziele auch dort verfolgen müssen, wo kein Frieden herrscht. Das zeigt das Beispiel Somalia: Seit 20 Jahren herrscht dort Krieg, und trotzdem ist uns gelungen, Entwicklungshilfe und humanitäre Hilfe zu leisten, um die Menschen mit dem Notwendigsten zu versorgen, örtliche Gemeinschaften zu unterstützen und die Voraussetzungen für Frieden zu schaffen. Für die Jahre 2008 bis 2013 hat die EU ­212 Millionen Euro für Somalia zugesagt. Das Geld fließt über internationale Nichtregierungsorganisationen und über die multilateralen Institutionen, die dort arbeiten können. Hinzu kommen noch mal 35 Millionen Euro für humanitäre Hilfe. Um den Seeverkehr und humanitäre Lieferungen vor Piraterie zu schützen, startete die Europäische Union 2009 die multilaterale Operation Atalanta. Trotzdem nimmt die Piraterie weiter zu. Unsere Strategie ist heute, Friedensdividenden zu zahlen: Wir fördern Lokalverwaltungen, die Frieden und Stabilität anstreben und die Grundversorgung der Bevölkerung sicherstellen. Entwicklungshilfe ist der einzige Weg, um potenzielle Täter von Gewalt und Räuberei abzuhalten. In der Sahelzone ist es ähnlich: Menschen, die keine Zukunft für sich sehen, beginnen mit Drogenhandel oder nehmen Geiseln. Die Wurzel dieser Gewalt ist Armut. Das heißt, wir müssen Armut schon im Keim bekämpfen.

Wie sehen Sie die Lage in Afghanistan?
Auch in Afghanistan zeigt sich, dass militärische Mittel zwar befristete Ruhe, aber keine Stabilität schaffen. Trotzdem darf es, wenn die fremden Streitkräfte im Jahr 2014 oder später das Land verlassen, keine Situation ohne Staat und ohne Frieden geben. Echter Frieden hängt von einer funktionstüchtigen Regierung und einem tragfähigen Sozialsystem ab. Ohne beides wird Afghanistan weitere Probleme auslösen, auch für umliegende Staaten und sogar die EU. Entwicklungspolitik ist also der Kern der Antwort auf alle Fragen.

US-Präsident Barack Obama hat angekündigt, den Truppenabzug in diesem Jahr zu beginnen. Angeblich hat sich die Sicherheitslage verbessert. Hat sie das?
Das müssen Militärexperten entscheiden. Noch Anfang April las ich in der US-Presse, dass die Lage weiterhin kritisch sei; auch der deutsche Spiegel berichtete über Tote in Nordafghanistan. Doch egal wann die letzten US-Truppen abziehen – die Situation wird unsicher bleiben. Auf einer gemeinsamen Reise mit Deutschlands Entwicklungsminister Dirk Niebel haben wir deshalb im Juni eine bessere EU-Strategie erörtert. ­Sehen Sie: Heute fließen pro Jahr insgesamt 1 Milliarde Euro an gemeinsamer Entwicklungshilfe aus EU-Mitgliedsländern nach Afghanistan. Es könnte natürlich mehr sein. Jedenfalls brauchen wir klar definierte Schwerpunkte, wo das Geld am meisten nützt. Sollten die US-Truppen irgendwann nicht mehr da sein, wird Europa dem Land weiterhin Entwicklungshilfe leisten, über militärische Präsenz hinaus. Zurzeit hängt Stabilität in Afghanistan noch immer ab von der Militärpräsenz – nicht zuletzt, weil viele Menschen dort dank der Truppen Arbeit haben. Ein US-Abzug wird enorme politische Konsequenzen haben – aber irgendwann muss die NATO gehen. Sie kann nicht auf Dauer für Stabilität sorgen. Also ist Entwicklungspolitik gefragt.

Die Regierung in Kabul klagt regelmäßig, die Geber träten zu fragmentiert auf und ließen zu viele Mittel an ihr vorbeifließen.
Ich teile diese Kritik – aber Sie dürfen den Hintergrund nicht vergessen. Die Korruption ist zu groß. Wir müssen mit europä­ischen Steuermitteln sorgfältig umgehen. Ich persönlich würde viele EU-Maßnahmen gerne stärker der Regierung in Kabul überlassen; bisher geht es aber nicht. Wir müssen den Verantwortlichen klare Bedingungen stellen, stärkere Korruptionsbekämpfung fordern und die Rahmenbedingungen der Hilfe verbessern. Ich stimme mit Minister Niebel überein, dass wir Europäer uns auf eine gemeinsame Programmierung für Afghanistan verständigen müssen. In Haiti und Südsudan haben wir in der Praxis bewiesen, dass so etwas funktioniert und dass der politische Wille, gemeinsam zu agieren, vorhanden ist. Welche Schwerpunktthemen wir verfolgen wollen, muss der Ministerrat diskutieren, im engen Austausch mit den USA. Wir müssen alle zusammenarbeiten. Das heißt nicht, dass wir Mittel zentralisieren sollten, sondern dass alle Geber wissen, was die anderen machen.

Die multilaterale Paris Declaration on Aid Effectiveness aus dem Jahr 2005 betont einerseits die Geberharmonisierung und andererseits die „Ownership“ von Entwicklungsländern. Je geschlossener die Geber auftreten, desto geringer wird aber der Spielraum für die Regierung ­eines Landes wie Afghanistan. Ist das nicht paradox?
Es klingt paradox, stimmt aber trotzdem. Die Regierungen der Entwicklungsländer müssen Ownership zeigen, und die Geber müssen eng zusammenarbeiten, um Doppelarbeit und divergente Politik zu vermeiden. Eine Strategie für Afghanistan kam übrigens nur zustande, weil EU-Mitglieder darauf drängten. Auch künftig muss die Entwicklungspolitik kohärent zu anderen – militärischen und politischen – Maßnahmen passen. Sicherheitsrisiken stören natürlich; am beunruhigendsten finde ich in Afghanistan aber die Korruption. Gegen sie sind wir machtlos, wenn Kabul nicht mitspielt.

Wie kann Europa in Zukunft klarer definieren, was es in Afghanistan leisten will?
Es geht um einen Dialog: Wenn Kabul zum Beispiel verlangt, wir sollten Gefängnisse bauen, nein, dann müssen wir ablehnen – das können wir EU-Bürgern kaum vermitteln. Wir brauchen keinen Wunschzettel der afghanischen Regierung, sondern eine gemeinsame, positive Strategie. Sofern sie greift, unterstützen wir Kabul gern – zum Beispiel beim Training von Ordnungskräften. Wir müssen wissen und zeigen können, worin der Mehrwert unserer Hilfe liegt. Unser Kontinent hat wertvolle Erfahrungen, die er weitergeben kann: Auch in Osteuropa haben wir schließlich stabile Demokratien aufgebaut und Korruption zurückgedrängt. Diese Erfahrungen zählen in fernen Weltregionen – etwa in Afghanistan oder Afrika.

Entwicklungspolitiker betonen gern Demokratie und Transparenz. Viele Beobachter beanstanden aber, dass das Europäische Parlament die Kommission kaum kontrollieren könne und Kernentscheidungen „top-down“ im Europäischen Rat – also unter EU-Regierungschefs – fielen.
Ich persönlich spüre die Beteiligung der Volksvertreter deutlich. Keine meiner Entscheidungen fällt ohne demokratische Kontrolle. Erstens hängt der EU-Entwicklungshaushalt vom Willen der EU-Regierungen ab, die dafür wiederum ihren Parlamenten und damit ihren Bürgern verantwortlich sind. Zweitens brauche ich für ihn die Zustimmung der Abgeordneten in Straßburg. Ich habe also zwei Stellen, die mein Budget kritisch beäugen. Ich bin dafür, die Mitspracherechte des Europäischen Parlaments über den Haushalt hinaus zu stärken. Ich habe bei Amtsantritt zugesagt, mich dafür einzusetzen – und tue das auch. In den meisten Fragen brauche ich zudem die Zustimmung aller 27 Mitgliedsstaaten.

Und doch scheint es vielen Bürgern so, als beschließe Brüssel alles von oben.
Aus meiner Perspektive lassen wir zurzeit zu viel „von unten“ entscheiden. Zu viele Entscheidungen fallen an der Basis, zum Beispiel durch EU-Delegationen in den Entwicklungsländern. In vielen Entwicklungsländern kümmert sich die EU zum Beispiel um kleinteilige Kulturprojekte. Die Delegationsleiter bekommen schöne Vorschläge, denen sie zustimmen. Aber auch wenn Kultur im Kampf gegen Hunger eine Rolle spielt, ist die EU vielleicht nicht der relevanteste Akteur auf diesem Feld. Ich wünsche mir schärfere Konturen, wo wir tatsächlich Fachwissen haben. Ich wünsche mir etwa mehr Akzente in der Energieversorgung. Auch in der Landwirtschaft kann Europa seinen Vorsprung nutzen. Wir sind schlechte Helfer, wenn wir überall helfen möchten. Es mag schwer sein, nein zu sagen – aber wir sollten unsere Kräfte konzentrieren.

Gibt es Gegenwind, wenn Sie für die bessere Koordinierung der Entwicklungspolitik in der EU werben?
Das Problem sind keine politischen, sondern technische Hindernisse. Jedes EU-Mitgliedsland hat eigene Institutionen und Verfahren, die oft weit in die Geschichte zurückgehen. Die historischen Strukturen dienen der demokratischen Steuerung und Kontrolle, passen unter­einander aber schlecht zusammen. Wir müssen Koordination und gemeinsame Konzepte voranbringen.

Welche Rolle werden nationale Entwicklungsminister noch haben, wenn die EU den Taktstock schwingt?
Ich wünsche mir, dass jedes der 27 Länder in Europa einen Entwicklungsminister behält, egal wie hoch dessen Budget ist. Bei Verhandlungen im Rat merke ich immer wieder, dass Länder mit eigenem Entwicklungsministerium globale Fragen anders wahrnehmen. Ihre Philosophie ist: Wir müssen klug in eine lebenswerte, globale Zukunft investieren. Das Schwellenland Brasilien hat gerade angekündigt, dass es bis 2014 extreme Armut bei sich besiegen will. Dieses Ziel müssen wir uns beispielsweise auch für Somalia, Sudan und Äthiopien setzen. Letztlich kämpfen wir so gegen globale Ursachen von Terrorismus und Kriegen. Verzichten wir in Afrika auf Entwicklungshilfe, werden dort Wälder wegen Feuerholz gerodet, Menschen wandern aus, und Kriege nehmen wahrscheinlich zu. Deshalb ist Entwicklungspolitik eine Investition in die Zukunft – auch für die Bürger Eu­ropas.