Volkswirtschaftslehre

Mit Gewinn aus der Krise

Die globale Krise hat auch die Wirtschaftswissenschaften erreicht. In der allgemeinen Suche nach tragfähigen Ordnungsmodellen eröffnet sich die Chance, neue Ideen in die wirtschaftspolitische Debatte einzubringen. Entwicklungsökonomen – und mit ihnen die internationale Entwicklungszusammenarbeit – könnten aufgrund ihrer ausgesprochenen Krisenkompetenz am Ende zu den Gewinnern zählen.


[ Von André Lieber ]

Die Wirtschaftswissenschaften befinden sich in einer Umbruchphase. Die globale Krise erschüttert Doktrinen und langjährige Lehrmeinungen beispielsweise in der Finanzwissenschaft, der Lehre von den öffentlichen Haushalten. Sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene stehen gewohnte Modelle und Annahmen zur Disposition – und damit auch die politischen Empfehlungen, die darauf fußen (Kirchgässner, 2009).

Eine Reihe namhafter Ökonomen stellt sich öffentlichkeitswirksam gegen die finanz- und fiskalpolitischen Gewissheiten der vergangenen drei Jahrzehnte. Dazu gehören Brad de Long, Paul Krugman, Wilhelm Buiter, Geoffrey Hodgson, David Colander oder Joseph Stiglitz (Colander, 2009).

Doch völlig unabhängig davon, ob man ihre Kritik teilt oder aber den Kern wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnis durch die Krise eher bestätigt sieht, gibt es aktuell zahlreiche Gelegenheiten, neue Ideen in die wirtschaftspolitische Debatte einzubringen. Entwicklungsökonomen sollten diese beherzt nutzen, denn ihre Krisenkompetenz ist unbestritten.

Für Entwicklungsökonomen ist das Thema Krise alles andere als neu. In gewisser Hinsicht könnte man sie sogar als Krisenveteranen bezeichnen. Denn ähnlich wie heute die Banken den Glauben an ihre Risikomodelle verloren haben, haben Geberländer und viele entwicklungspolitische Institutionen zuletzt in den 1990er Jahren den Glauben an die Mach- und Planbarkeit von Entwicklung verloren.

Zu Zeiten des Washington Consensus ruhte der Fokus der Forscher auf den Strukturen der Empfängerländer. Strukturanpassungsprogramme sollten sie korrigieren. Mit deren Misserfolg rückten zunehmend die Strukturen der Geberländer in den Blickpunkt. Schlagworte wie Geberharmonisierung und Wirksamkeit der Entwicklungshilfe prägten fortan die internationale Debatte.

Zugleich herrscht nun eine gewisse Ratlosigkeit. Wenn es überhaupt so etwas wie einen Post-Washington-Consensus, also ein mehrheitsfähiges entwicklungspolitisches Paradigma gibt, dann lautete dieser Konsens, dass es keine Blaupausen – letztlich also auch kein Paradigma – mehr gibt. Der explizite Verzicht auf ein Modell wurde Programm, und viele Entwicklungsökonomen begannen sich in Methodendebatten zu verzetteln.

Während für die modernen Wirtschaftswissenschaften das Thema Krise mit wenigen Ausnahmen praktisch keine Rolle spielte, setzten sich Entwicklungsökonomen seit jeher intensiv mit Krisensymptomen und -ursachen auseinander. Instabile Finanzmärkte, schwache beziehungsweise fehlende staatliche Aufsichts- und Kon­troll­institutionen und überschuldete öffentliche Haushalte prägen trotz mancher jüngerer Erfolgsgeschichte weiterhin den Alltag vieler Entwicklungsländer. Diese und andere Fragen rücken nun auch wieder in den Mittelpunkt der allgemeinen wirtschaftspolitischen Debatte – vor allem in westlichen Industriestaaten.

Dass auch Entwicklungsökonomen selbst immer wieder eine Krise ihrer Zunft beklagen, ist ebenfalls nicht neu. Diese Disziplin wird praktisch seit ihren Anfängen Mitte des 20. Jahrhunderts immer wieder in Frage gestellt. Albert O. ­Hirschman, einer ihrer Gründerväter, ­beklagte 1981 in einer polemischen Attacke deren Ideenarmut. Seine provokante These war, dass sich nur Ökonomen, denen es nicht gelänge, sich in Handels-, Geld- oder wirtschaftshistorischen Fragen zu etablieren, der Entwick­lungs­öko­no­mie zuwendeten.

Welche Lektion hält speziell die Entwicklungsökonomik für aktuelle wirtschaftspolitische Herausforderungen parat? Angesichts der institutionellen Komplexität von Gesellschaften haben Entwicklungsökonomen schon sehr früh ein grundlegendes Verständnis für methodische und methodologische Grenzen entwickelt. Ohne Offenheit für Nachbardisziplinen ist die Dynamik von Entwicklungspro­zessen schlichtweg nicht nachzuvollziehen. Daran sollten sich die gesamten Wirtschaftswissenschaften ein Beispiel nehmen – und systematisch die Expertise von Soziologen, Historikern und Psychologen in ihre Analysen integrieren.

Zusammenfassend haben Entwick­lungsökonomen mehr zu bieten, als so mancher Kritiker meint. Das sei an dieser Stelle anhand von drei Schlagworten – Vielfalt, Wandel und Leitbilder – belegt.
– Vielfalt: Die Entwicklungsökonomik lebt von der Vielfalt der Analyse, der Methoden und der Lösungen. Entwicklung ist nichts, was Technokraten einfach bewerkstelligen könnten. Informelle Netzwerke und Faktoren verdienen ebenso Berücksichtigung wie geregelte Verfahren und formal verfasste Institutionen. Elinor Ostrom, die als Politologin im vergangenen Jahr den Wirtschaftsnobelpreis gewann, hat beispielhaft herausgearbeitet, wie Kooperation in verschiedenen Kulturen und auf verschiedenen Ebenen zustande kommt (siehe Eduardo Araral in E+Z/D+C 11/2009 S. 424 ff). Dass sie wissenschaftliche Vielfalt fordert, um der Vielfalt unserer Umwelt gerecht zu werden, ist nur konsequent (Ostrom, 2005).
– Wandel: Jeder Entwicklungsprozess beschreibt ein andauerndes Zusammenwirken aus endogenen und exogenen Kräften. An die Stelle von stabilen Gleichgewichten muss folgerichtig eine Theorie des institutionellen Wandels treten. Besondere Aufmerksamkeit gilt hierbei Prozessen der Selbstorganisation und der Partizipation (Evans, 2004). Dabei ist die Rationalität des ­Verhaltens aller Akteure vielfach beschränkt. Gerade in Zeiten hoher Komplexität und Unsicherheit vertrauen viele Akteure auf einfache Heuristiken und agieren basierend auf einem Mix aus ureigenen Handlungsprinzipien, Normen, Traditionen und moralischen Vorstellungen (Gigerenzer et. al., 1999 / Smith, 2003).
– Leitbilder: Die Entwicklungsökonomik blendet kulturelle und kognitive Elemente und Faktoren im institutionellen Wandel nicht aus. Vielmehr erforscht sie konkret die Wirkung wirtschaftspolitischer Leitbilder. Es geht um das Zusammenspiel zwischen inneren Vorstellungswelten einerseits und institutioneller Veränderung andererseits. Jenseits von rein mentalistischen Erklärungsversuchen gilt es, die „geteilten mentalen Modelle“ einflussreicher Akteure und Gruppen zu erforschen ­(Denzau/North, 1994). Die Wirtschaft ist vor diesem Hintergrund als ein koevolutiver und konfigurativer Komplex anzusehen, der sich aus Bedeutungszuweisung (Semantiken), Regeln und Sanktionen (Institutionen) und alltäglichen Verfahrensweisen (Praktiken) zusammensetzt (Plumpe, 2009).

Der deutsche Ökonom und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) unterschied in seinem Werk „Die drei Nationalöko­nomien“ zwischen einer richtenden, einer ordnenden und einer verstehenden Nationalökonomie. Während die erste vor allem eine Elementarisierung, Quantifizierung und Mathematisierung anstrebe, verfolge die zweite eine rein deskriptive Wissenschaft. Die verstehende Nationalökonomie wiederum verstehe sich als „Wissenschaft vom menschlichen Zusammenleben“.

Nun ist in Zeiten der Globalisierung ­eine Rückkehr zu den Grundsätzen der ­Nationalökonomie weder denkbar noch erstrebenswert. Das Verständnis von Ökonomie als einer Wissenschaft vom menschlichen Zusammenleben hat dagegen nichts von seiner Gültigkeit und seiner Aktualität verloren.