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Bildende Kunst

Leben, die auf Wasser treiben

Mai Nguyen Thi Thanh ist eine vietnamesische Künstlerin, die mit verschiedenen Materialien und Medien arbeitet. Zu ihren Interessenschwerpunkten gehört das Thema Identität, dem sie in einem Kunstprojekt mit staatenlosen Menschen in Kambodscha und Vietnam auf den Grund ging. Ellen Thalman hat Mai Nguyen Thi Thanhs Geschichte in deren Worten für E+Z/D+C aufgeschrieben.
Für die Serie „Shadow“ hat Mai Nguyen Thi Thanh Dorfszenen fotografiert und die abgebildeten Menschen mit schwarzen Silhouetten übermalt. Mai Nguyen Thi Thanh / KfW Stiftung Für die Serie „Shadow“ hat Mai Nguyen Thi Thanh Dorfszenen fotografiert und die abgebildeten Menschen mit schwarzen Silhouetten übermalt.

Das Thema Identität ist für mich ein sehr persönliches. Ich wurde 1983 in einem Dorf nahe Hanoi in Nordvietnam geboren. Auch meine Mutter und mein Vater stammten von dort. Aber als ich klein war, zogen wir wegen der Arbeit meines Vaters in den Süden, nach Hue, wo ich aufwuchs und bis heute lebe.

Während meiner gesamten Kindheit fühlte ich mich als Außenseiterin. Es gab in Hue Traditionen und Geschichten, die meine Familie nicht kannte. Meine Großmutter und andere Verwandte lebten weit weg, und wir sahen sie fast nie. Deshalb kannte ich die Geschichte und die Geschichten meiner Familie nicht so gut wie Kinder, die in der Nähe ihrer Verwandten leben. Obwohl mein Vater Arbeit hatte, hatten wir nicht viel Geld. Meine Mutter war jedoch erfindungsreich und fand viele Wege, um etwas dazuzuverdienen. Wir Kinder bastelten Umschläge und schälten haufenweise Erdnüsse, um die Familie zu unterstützen. Wir waren dabei kein Sonderfall: Fast alle Familien hatten es damals schwer.

Als ich klein war, lebte in meiner Nachbarschaft ein Mädchen, das Kindern das Zeichnen beibrachte. Sie machte sehr farbenfrohe, wunderschöne Bilder, und ich versuchte immer, einen Blick darauf zu erhaschen. Schließlich organisierte mein Vater für mich Zeichenstunden, und später hatte ich im Zeichnen stets gute Schulnoten. Nach dem Schulabschluss studierte ich traditionelle vietnamesische angewandte Kunst an der Kunsthochschule in Hue. Heute unterrichte ich, wenn ich nicht selbst Kunst mache, an der Universität von Hue traditionelles vietnamesisches Holzlackieren.

In Vietnam gibt es keinen Studiengang für zeitgenössische Kunst. Im Jahr 2003 oder 2004 leiteten einige Künstler aus Deutschland einen Workshop über Kunstinstallationen, anschließend gab es eine Gruppenausstellung. So kam ich zum ersten Mal mit zeitgenössischer Kunst in Berührung. Ich stellte fest, dass ich darüber vieles ausdrücken kann, was mich beschäftigt.

Im Jahr 2012 machte ich meinen Masterabschluss in visueller Kunst an der Universität von Mahasarakham in Thailand. In meiner Heimatstadt verstehen allerdings viele Leute bis heute nicht, was ich mache.

Während meines Aufenthalts in einem Kunstatelier in Phnom Penh im Jahr 2014 hörte ich von einem vietnamesischen Fischerdorf im Zentrum von Kambodscha, in dem staatenlose Menschen auf Booten im Tonle-Sap-See leben. Ich wollte diese Menschen treffen und etwas über ihr Leben als ewige Migranten erfahren. Ich wollte wissen, weshalb Menschen für einen Neuanfang alles zurücklassen, und was sie auf diesem Weg verloren haben.

Seit vielen Generationen gibt es vietnamesische Gemeinschaften im Zentrum Kambodschas. Sie leben am Tonle-Sap-Fluss, stromaufwärts der vietnamesischen Grenze. Diese Minderheit siedelte sich unter der französischen Kolonialherrschaft Anfang des 19. Jahrhunderts oder sogar noch früher in Kambodscha an. Ich besuchte ein Dorf mit 400 Haushalten. Die Bewohner dürfen kein Land besitzen, deshalb müssen sie auf Booten leben. Ihr gesamter Alltag spielt sich auf dem Wasser ab: Geschäfte, Schulen und Tankstellen sind auf Booten. Zur Fortbewegung benutzen die Menschen Motorboote. Sie leben von dem, was der See hergibt: Sie fischen oder sammeln Wasserhyazinthen für den Verkauf. Doch wegen der schlechten Wasserqualität sterben die Fische, und das trägt noch mehr zur unsicheren Lage dieser Menschen bei.

So wie ihre Existenz treibt auch ihre Lebensweise dahin. Die Menschen haben keine Pässe und keine Geburtsurkunden. Sie leben ohne offizielle Identität und gehören keiner Nation an. Immer und immer wieder benutzten meine Gesprächspartner die Worte „von Tag zu Tag“. Sie leben von einem Tag auf den anderen und haben keine Möglichkeit, Zukunftspläne zu schmieden. Sie fühlen sich entfremdet und gefangen in den Entscheidungen, die andere Menschen trafen, lange bevor sie geboren wurden. Einer sagte zu mir, sie seien wie die Hyazinthen, die im Wasser treiben.

In unseren Gesprächen kam immer wieder das Thema der Personalausweise auf. Obwohl viele Familien seit Generationen auf dem Tonle Sap leben, haben sie keine kambodschanischen Papiere. Bestenfalls verfügen sie über eine Mitgliedskarte der Vereinigung vietnamesischer Kambodschaner.

Viele dieser Menschen sind der Meinung, dass sich ihre Lebensumstände mit einem Personalausweis verbessern würden, denn sie bekämen Zugang zu Gesundheitsversorgung und höherer Bildung. Aber in der Vergangenheit hat die Dokumentation auch Probleme verursacht. Familien haben ihre Papiere während der Herrschaft des Pol-Pot-Regimes von 1975 bis 1979 verloren oder zerstört. Die Vietnamesen in Kambodscha mussten aus Angst um ihr Leben ihre Identität verheimlichen. Auch heute noch schüchtern Behördenvertreter Angehörige dieser Minderheit ein und verlangen häufig Bestechungsgelder.

Ein Jahr lang habe ich die Menschen vom Tonle Sap regelmäßig besucht und mit ihnen jedes Mal mehrere Wochen gelebt. Sie brauchten eine Weile, um mir zu vertrauen. Ich habe viele Geschichten und Inspiration aus der Erzählung ihrer Lebensgeschichten gesammelt. Ich sammelte auch Fotos und alte Kleidung, die sie mir gaben, und notierte ihre Namen und Geburtstage. In meiner Arbeit verwende ich oft Recyclingmaterial, daher entschloss ich mich, Personalausweise auf Kleidungsstücke dieser Menschen zu drucken. Ich dachte viel darüber nach, was diese Ausweise den Menschen bedeuten könnten - etwa Macht, Träume, ein besseres Leben, Legitimität oder das Gefühl, irgendwo hinzugehören. Meine Idee war es, nicht nur ein Konzept von etwas zu schaffen, sondern auch die Gesichter echter Menschen mit diesen Ideen zu verknüpfen.

Ich wollte, dass die Menschen wissen, dass sich jemand für sie interessiert und dass sie ihre Erfahrungen in einer Ausstellung in Phnom Penh teilen können. Aber ich musste den Dorfbewohnern meine Arbeit erklären, und sie verstanden sie nicht richtig. Viele dachten, ich sei Journalistin. Zeitgenössische Kunst war ihnen völlig fremd.

Als ich in der Stadt nach Leuten suchte, die mir bei der Herstellung der Personalausweise helfen, stellte ich fest, dass viele Angst davor hatten. Weil vieles politisch interpretiert wird, fürchteten sie, die vietnamesischen Gemeinschaften könnten Ärger bekommen. Ich musste das Einverständnis des Dorfältesten einholen, der mich zum Vorsitzenden der vietnamesischen Gemeinschaft schickte, der wiederum mit einem höher gestellten Mann sprach. Letztlich wollte niemand eine Entscheidung treffen. Schließlich haben Menschen aus meinem Dorf in Vietnam die 348 Personalausweise zusammengenäht, die die Geschichte dieser Gemeinschaft erzählen. Immerhin erlaubten die Behörden mir, einen Film über die Hausbootbewohner zu drehen. Sie hofften, dass so das Bewusstsein für die Vietnamesen in Kambodscha geschärft wird.

Dieser Film, „Day by Day“, und eine Serie von Fotografien mit dem Titel „Shadow“ wurden Teil einer von Roger Nelson kuratierten Ausstellung, die Anfang dieses Jahres im Sa Sa Bassac Kunstzentrum in Phnom Penh und anschließend im Ho-Chi-Minh-Kunstmuseum in Vietnam gezeigt wurde. Dazu gehörten auch Interviews, die ich in der vietnamesischen Grenzstadt Long An mit Menschen führte, die nach Vietnam zurückgekehrt waren, aber aufgrund fehlender Dokumente staatenlos blieben. Viele glauben, dass sich ihr Leben verbessert, wenn sie nach Vietnam zurückkehren. Doch auch dort haben sie keine offizielle Identität.

Für die Serie „Shadow“ fotografierte ich Dorfszenen und übermalte die abgebildeten Menschen mit schwarzen Silhouetten. Diese schwarzen Figuren stellen den Verlust ihrer Identität dar, das Fehlen eines sicheren Ortes in der Gesellschaft sowie eine unsichere Zukunft.

In der Ausstellung habe ich die Personalausweise auf einem Tisch nebeneinander platziert. Jedes dieser inoffiziellen Dokumente erhielt eine Nummer, die mit vielen Nullen beginnt. Sie suggerieren, dass es möglicherweise eines Tages Personalausweise für die ganze Welt geben wird - keine Politik, keine Behördenstempel und keine nationale Identität.

Ich selbst habe mein Land für mindestens ein Jahr verlassen und bin 2015 zum ersten Mal nach Europa gereist. Derzeit bin ich Stipendiatin der KfW-Stiftung im Künstlerhaus Bethanien in Berlin. Am 3. März werde ich in einer Einzelausstellung meine in Berlin entstandenen Arbeiten vorstellen.


Mai Nguyen Thi Thanh ist vietnamesische Künstlerin und arbeitet im Rahmen eines Stipendiums der KfW Stiftung derzeit im Künstlerhaus Bethanien in Berlin. Sie erzählte ihre Geschichte Ellen Thalman, die sie aufschrieb.
nguyenthithanhmaivn@gmail.com

http://www.kfw-stiftung.de