Schulbildung in Indien
Die verheerenden Auswirkungen von Covid-19 auf Indiens Bildungswesen
Nach Angaben des Bildungsministeriums wurden zwischen 2020 und 2021 landesweit mehr als 20 000 Schulen geschlossen. Die Abbruchquote junger Kinder in der oberen Primarstufe hat sich verdoppelt. Die Regierung führt dies auf aufgeschobene Schulanmeldungen aufgrund der Corona-Pandemie zurück, spricht aber auch von hohen Einschulungsraten für dasselbe Schuljahr. Auch die Zahl der Lehrkräfte ist im Vergleich zum vorherigen Schuljahr um fast zwei Prozent zurückgegangen, vor allem weil viele Privatschullehrer während der Schließungen entlassen wurden.
Doch die Probleme im Bildungssystem kamen nicht erst mit der Pandemie. Eine UNICEF-Erhebung zeigt, dass auch in nichtpandemischen Zeiten ein Drittel der Mädchen die Schule aufgrund von Hausarbeit und ein Viertel aufgrund von Heirat abbrechen.
Der „National Achievement“-Bericht 2022 zeigt, dass sich die Situation während der Pandemie verschlechtert hat. Gleichzeitig unterstreicht er die schlechte Qualität der Schulbildung im Allgemeinen. Das Dokument zeigt, dass Bildung die althergebrachten Benachteiligungen in der indischen Gesellschaft nicht abbaut, sondern Privilegien verstärkt.
In den unteren Klassenstufen lassen sich kaum Unterschiede zwischen den Leistungen der Schüler an staatlichen Schulen und denen an Privatschulen beobachten. In den höheren Klassenstufen jedoch zeigen die Schüler an Privatschulen bessere Leistungen. Dieser Vorsprung vergrößert sich deutlich, wenn die Schüler die Oberstufe erreichen. Auch die Kastenzugehörigkeit hat einen Einfluss auf die Bildungsergebnisse: Schüler aus niedrigeren Kasten steigen zwar auf der Bildungsleiter auf, bleiben aber immer noch hinter Schülern aus anderen Kasten zurück – und die Unterschiede werden in der höheren Bildung noch größer.
Der überregionalen Zeitung „The Hindu“ liegen Daten aus der Zeit vor und nach der Pandemie vor. Darin wird ein massiver Rückgang des allgemeinen Lernniveaus während des Lockdown-Zeitraums bestätigt. Dieser war stärker bei Schülern aus niedrigeren Kasten und ländlichen Gebieten.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Einer Studie zufolge hatten mindestens 43 Prozent der Schüler bis zu 19 Monate nach Schließung der Schulen keinen Zugang zu Online-Unterricht. Das ist wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass nur 24 Prozent der indischen Familien ein Smartphone besitzen und weniger als 12 Prozent der staatlichen Schulen an das Internet angeschlossen sind. Angesichts der schwerwiegenden wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie auf die Haushaltseinkommen konnten sich die meisten Familien mit geringem Einkommen den Kauf digitaler Geräte nicht leisten. Eine Lehrerin einer abgelegenen Schule in Westbengalen berichtet, dass nur fünf von 50 Schülern ihren Onlineunterricht besuchten.
Die indische Regierung schlug vor, das Bildungsfernsehen von 12 auf 200 Kanäle zu erhöhen, um die Lernlücke zu verringern. Doch die völlige Wirkungslosigkeit von Bildungsprogrammen im Fernsehen wird in der Studie SCHOOL (School Children‘s Online and Offline Learning) verdeutlicht. Sie zeigt auf, dass die meisten armen Haushalte gar keinen Fernseher besitzen.
Digitale Lerninhalte allein können Schulen und Lehrer nicht ersetzen. Das wurde umso deutlicher, als unterschiedliche Erhebungen im ganzen Land zeigten, dass viele Schüler der Klassen 3 bis 5 das Lesen und Schreiben fast verlernt hatten, als sie 2022 wieder in ihre Klassenzimmer zurückkehrten.
Selbst für die technisch besser ausgerüsteten Familien war die Zeit herausfordernd, da die gesamte Verantwortung für die Bildung der Kinder auf die Familie überging: „Mein Kind schaltete die Kamera während des Unterrichts aus und spielte Spiele. Er hat sich keine Notizen gemacht, und meistens musste ich ihn jeden Tag nach dem Onlineunterricht erneut unterrichten“, erzählt Aparna Singh, eine berufstätige Mutter, deren sechsjähriges Kind eine Tagesschule in Lucknow, der Hauptstadt des bevölkerungsreichsten indischen Bundesstaates Uttar Pradesh, besucht. „Die Lehrer wollten nur den Lehrplan abarbeiten. Ich habe keine Ahnung, wie viel mein Sohn tatsächlich gelernt hat! Versetzt wurde er trotzdem.“
Genauso wie die 50 Schüler der westbengalischen Lehrerin – obwohl nur fünf von ihnen am Onlineunterricht teilnehmen konnten. In allen Bundesstaaten ordnete die Regierung Versetzungen oder nachsichtige Benotungen an, um sicherzustellen, dass die Schüler bestanden. Dies deutet auf ein größeres Problem des indischen Bildungssystems hin: Lernen wird mit dem Absolvieren des Lehrplans gleichgesetzt.
Da die politischen Entscheidungsträger während der Pandemie ausdrücklich die Versetzung anordneten, war die Zahl der Schüler, die von der Sekundarschule in die Oberstufe und von der High School ins College wechselten, weit höher als in den Jahren zuvor. Dementsprechend sanken die Wiederholungsquoten zwischen 2020 und 2022. Die Auswirkungen eines derartig nachsichtigen Ansatzes dürften die Schulabgänger spätestens auf dem Arbeitsmarkt zu spüren bekommen –- und auch die Gesellschaft im Allgemeinen, wo bereits vor der Pandemie Diskussionen über weniger fähige Ingenieure und andere Spezialisten geführt wurden.
Für die meisten Inder ist eine fundierte Bildung die einzige Hoffnung, Armutskreisläufe zu durchbrechen. Die Corona-Pandemie hat viele Schwächen des indischen Bildungssystems aufgedeckt und die bestehenden Bildungsungleichheiten vergrößert. Das Land muss daher so schnell wie möglich die durch die Pandemie verursachten Defizite beheben und generell an der Verbesserung seines maroden Bildungssystems arbeiten.
Quellen
Nihalani, J., Varghese, R. R., 2022: Pandemic impact: Marked decline in Maths, Science scores among rural, SC/ST students.
https://www.thehindu.com/data/data-pandemic-impact-marked-decline-in-maths-science-scores-among-rural-scst-students/article65479807.ece
Vernekar, N. et al., 2022: Clearing the Air. A Synthesised Mapping of Out of School Children during COVID-19 in India.
https://vidhilegalpolicy.in/research/clearing-the-air-a-synthesised-mapping-of-out-of-school-children-during-covid-19-in-india-april-2020-may-2022/
Roli Mahajan ist Journalistin und lebt in Lucknow, Indien.
roli.mahajan@gmail.com