SDGs
Programme für die Allerärmsten
Wachsende Ungleichheit, zunehmende Fragilität von Staaten und die Folgen des Klimawandels laufen der Beseitigung von Armut zuwider. Zudem werden voraussichtlich weder Indien noch Afrika südlich der Sahara Armut so effektiv bekämpfen können wie China zur Zeit der Millenniumsziele. Vor allem in Sub-Sahara Afrika ist mit einer deutlich langsameren Verringerung von Armut zu rechnen.
Der Anteil der „Ultra-Armen“, also der Menschen, deren Einkommen um mehr als die Hälfte unter der internationalen Armutslinie liegen, ist in dieser Region mit Abstand am größten. Die Weltbank bezeichnet daher die Schwere der Armut als eine der drei größten Herausforderungen bei der Verwirklichung des ersten Sustainable Development Goals (SDG 1), Armut in all ihren Formen und überall zu beenden. Sie folgert daraus, dass der Politikdiskurs sich stärker auf die Belange der Ärmsten der Armen konzentrieren muss (Weltbank, 2015).
Die einzige größere Studie zu Ultra-Armut (IFPRI, 2007) hat gezeigt, dass Menschen, die davon betroffen sind, häufig:
- in entlegenen ländlichen Gebieten leben,
- einer ethnischen Minderheit angehören,
- ein niedriges Bildungsniveau aufweisen,
- über geringe Vermögenswerte verfügen und
- unzureichenden Zugang zu Märkten haben.
Frauen, Kinder und Menschen mit Behinderung sind mit großer Wahrscheinlichkeit stärker von Ultra-Armut betroffen als andere. Eine definitive Aussage hierzu würde jedoch Daten voraussetzen, die auch zwischen den Mitgliedern eines Haushalts unterscheiden. Derzeit beruhen Armutszahlen jedoch zumeist auf haushaltsbasierten Umfragen.
Das Chronic Poverty Advisory Network (CPAN, 2014) verweist auf drei zentrale Ursachenkomplexe für Ultra-Armut: ein Mangel an Vermögenswerten und geringe daraus erzielte Erträge, eine stark ungleiche Machtverteilung und die soziale Exklusion von Ultra-Armen sowie das weitere politische Umfeld, makroökonomische Politik und soziale Normen, die den Interessen der Ärmsten zuwiderlaufen. Negative Ereignisse wie die Krankheit eines Familienmitglieds, ein gewaltsamer Konflikt oder eine Naturkatastrophe können Ultra-Armut auslösen oder verstärken.
Die Ärmsten fördern
Die nachhaltige Überwindung von Ultra-Armut erfordert sowohl deren Bekämpfung als auch die aktive Verhinderung von Rückfällen in die Armut. Dazu muss vor allem die Politik die Rechte und Fähigkeiten der Ärmsten fördern und zum Abbau von Ungleichheiten beitragen. Folgende Handlungsfelder sind besonders wichtig:
- Nachhaltige Wirtschaftsentwicklung: Wachstumsstrategien müssen so inklusiv gestaltet werden, dass auch Menschen in Armut zu Wirtschaftswachstum beitragen und davon profitieren können. In vielen Ländern mit einem hohen Anteil an Ultra-Armen muss immer noch vor allem die ländliche und agrarwirtschaftliche Entwicklung gefördert werden, insbesondere von Kleinbauern. Berufliche Bildung kann informell Beschäftigten bessere Chancen im informellen Sektor eröffnen und den Übergang in formelle Beschäftigungsverhältnisse erleichtern.
- Bildung und Gesundheit: Die Ärmsten, einschließlich Kinder und Frauen, müssen Zugang zu qualitativ angemessener Bildung und Gesundheitsversorgung erhalten. Dazu können unter anderem Solidarfonds, Gutscheine und Stipendien, die Berücksichtigung kultureller Besonderheiten von ethnischen oder religiösen Minderheiten und die Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechnik zur Erreichung von entlegenen Gebieten beitragen.
- Soziale Sicherung: Universelle soziale Sicherungssysteme, insbesondere bezüglich Grundsicherung und Absicherung gegen Krankheit, müssen schrittweise aufgebaut werden, um auch Ultra-Arme zu erreichen. Grundsicherung kombiniert mit aktivierenden Maßnahmen (siehe BRAC-Beispiel unten) kann nachhaltig aus der Armut führen.
- Inklusion: Dort, wo die Ärmsten aufgrund ihrer ethnischen oder anderweitigen Identität diskriminiert werden, sind Maßnahmen zur Überwindung diskriminierender sozialer Normen notwendig. Erforderlich sind auch Ansätze, die Frauen die umfassende Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen ermöglichen.
In Ländern mit hohen Anteilen von Ultra-Armen bietet es sich an, verstärkt auf überproportional betroffene Bevölkerungsgruppen wie Minderheiten, Menschen mit Behinderung und Menschen in entlegenen ländlichen Regionen oder informellen Siedlungen abzuzielen. In anderen Ländern kann das gezielte Targeting von ultra-armen Haushalten sinnvoll sein.
Eines der erfolgreichsten Programme zur direkten Bekämpfung von Ultra-Armut ist das „Targeting the Ultra Poor“-Programm der NGO BRAC aus Bangladesch, auch bekannt als Graduierungsprogramm. Es kombiniert Grundsicherung mit aktivierenden Maßnahmen wie der Bereitstellung von produktiven Mitteln und Training. Ein wichtiges Element ist das regelmäßige Coaching der teilnehmenden Familien, bei dem die Trainingsinhalte, aber auch aktuelle Herausforderungen individuell besprochen werden.
Der Ansatz wurde mit Unterstützung der Consultative Group to Assist the Poor (CGAP), einer globalen Partnerschaft mit Sitz bei der Weltbank, in neun weiteren Ländern eingeführt. Auch ein Jahr nach Ende des Programms haben die meisten der teilnehmenden Haushalte Ultra-Armut überwunden (Banerjee et al., 2015). In Bangladesch, wo das Programm mit Abstand am längsten eingesetzt wird, sind diese positiven Wirkungen auch noch nach mehreren Jahren zu beobachten.
Zurzeit wenden mehr als 40 staatliche und nichtstaatliche Akteure den BRAC-Ansatz in jeweils lokal angepasster Weise an. Die Praxis soll auch Antworten auf die Fragen liefern, wie das Programm zugleich kostengünstig und effektiv in der Breite eingeführt werden kann und wie es mit bestehenden nationalen sozialen Sicherungssystemen kombiniert werden kann.
Lebensumstände beachten
Generell ist es aufgrund von Marginalisierung, fehlender Bildung und anderen mangelnden Ressourcen schwierig, ultra-arme Menschen zu erreichen. Beispielsweise benötigen selbst informelle Müllsammler einen gewissen Organisationsgrad, um von Entwicklungsmaßnahmen zu profitieren. Die Erfahrungen von Organisationen wie BRAC zeigen aber, dass es möglich ist, Ultra-Armen nachhaltig aus der Armut herauszuhelfen. Dazu muss ihren spezifischen Lebensumständen Rechnung getragen werden. Zum Beispiel können die Ärmsten der Armen in der Regel keine finanziellen Eigenbeiträge leisten oder Gebühren aufbringen, zudem haben sie oft keine Zeit oder sind nicht ausreichend gebildet, um regelmäßig an Maßnahmen teilzunehmen.
Die Frage wird zunehmend wichtiger, wie auch staatliche Entwicklungshilfe (official development assistance – ODA) und nationale Politik Ultra-Arme erreichen können. Gleichzeitig müssen nationale und internationale Strukturen so reformiert werden, dass Ungleichheit nicht weiter wächst, sondern abgebaut wird. Ansonsten wird die Beseitigung extremer Armut bis 2030 wohl ein Wunschtraum bleiben.
Jörn Geißelmann ist Politikberater bei der GIZ. Er äußert hier seine persönliche Sicht.
joern.geisselmann@giz.de
Quellen
Banerjee, A., et al., 2015: A multifaceted program causes lasting progress for the very poor. Evidence from six countries.
http://www.econ.yale.edu/~cru2/pdf/Science-2015-TUP.pdf
Chandy, L., Ledlie, N., and Penciakova, V., 2013: The final countdown. Prospects for ending extreme poverty by 2030.
https://www.brookings.edu/wp-content/uploads/2016/06/The_Final_Countdown.pdf
CPAN, 2014: The Chronic Poverty Report 2014-2015: The road to zero extreme poverty.
https://www.odi.org/sites/odi.org.uk/files/odi-assets/publications-opinion-files/8834.pdf
IFPRI, 2007: The world’s most deprived
http://ebrary.ifpri.org/cdm/ref/collection/p15738coll2/id/125264
World Bank Global Monitoring Report 2014/2015: Ending poverty and sharing prosperity.
http://elibrary.worldbank.org/doi/abs/10.1596/978-1-4648-0336-9_ReportCard