Völkerrecht

„Bei den westlichen Staaten gibt es zu viele Widersprüche“

Als sich die BRICS-Staaten im August in Südafrika trafen, war Russlands Präsident Wladimir Putin nur digital zugeschaltet. Ihm drohte die Festnahme, weil der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag im März gegen ihn einen Haftbefehl erlassen hatte. Kai Ambos, Experte für Völkerrecht und Richter am Kosovo-Sondertribunal in Den Haag, sprach mit E+Z über den Haftbefehl und die Rolle des IStGH im internationalen Machtgefüge.
Karim Khan (rechts), Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, reiste in die Ukraine, um sich über Kriegsverbrechen zu informieren. picture-alliance/REUTERS/Volodymyr Petrov Karim Khan (rechts), Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, reiste in die Ukraine, um sich über Kriegsverbrechen zu informieren.

Der Haftbefehl des IStGH gegen Putin basiert auf dem Vorwurf, er sei verantwortlich für die Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland. Weshalb wird Putin gerade deswegen strafrechtlich verfolgt – und nicht etwa wegen der Invasion in die Ukraine?
Der IStGH ist in der Frage der Aggression nicht zuständig. Dafür müssten sowohl der Tatortstaat, die Ukraine, wie auch der Täterstaat, Russland, Vertragsstaaten des IStGH sein. Das ist bei beiden nicht der Fall. Es gäbe noch eine weitere Möglichkeit, über den UN-Sicherheitsrat, aber dort macht natürlich Russland von seinem Vetorecht Gebrauch.

Inwiefern liegt der Fall bei den Verschleppungsvorwürfen anders?
Hier konnte die Ukraine von der Möglichkeit Gebrauch machen, die Zuständigkeit des IStGH anzuerkennen. Das hat sie mehrfach getan. Der Haftbefehl bezieht sich auf diesen konkreten Vorwurf vermutlich deshalb, weil die Beweislage relativ gut ist. Rein juristisch gesehen muss der Ankläger ermitteln, wenn ihm bestimmte Beweise vorliegen und er einen Tatverdacht hat, ungeachtet der Person oder der Erfolgschancen einer Festnahme. Ermittler des Strafgerichts oder der Anklagebehörde recherchieren dann selbstständig in der Ukraine. Die Anklagebehörde verlässt sich nicht auf Beweise von anderen. Das würde ihre Unabhängigkeit in Frage stellen.

Welche Auswirkungen hat der Haftbefehl gegen Putin? Er reiste im August nicht zum BRICS-Schwellenländer-Gipfel nach Südafrika, weil ihm dort Verhaftung drohte.
Putin muss damit rechnen, festgenommen zu werden, jedenfalls von Vertragsstaaten des IStGH, zu denen Südafrika zählt. Und auch bei Nichtvertragsstaaten besteht ein gewisses Risiko, dass sie ad hoc mit dem IStGH kooperieren. Über die Auswirkungen auf den Ukrainekrieg kann man nur spekulieren.

Wie stehen die Chancen des IStGH, die Verbrechen im Ukrainekrieg juristisch aufzuarbeiten?
Zunächst geht es darum, dass Gegenden, wo Straftaten stattfanden, für Ermittler zugänglich sind. Hier ist die Situation in der Ukraine besser als in manchen afrikanischen Staaten. In Südsudan oder in der DR Kongo ist es viel schwieriger, überhaupt ins Land zu kommen. In der Ukraine haben die Ermittler Zugang zu sehr vielen Tatorten und damit letztendlich auch zu sehr vielen Beweisen. In einem solchen bewaffneten Konflikt finden viele potenzielle Verbrechen statt. Es geht dann vor allem darum, eine Auswahl zu treffen.

Wie arbeiten die Ermittler?
Sie sprechen mit Zeugen und sichern die Tatorte forensisch. Zum Beispiel können sie Leichen exhumieren lassen, um zu erkennen, ob Exekutionen stattfanden. Zudem hat die sogenannte Digital Evidence, etwa Satellitenaufnahmen oder Beweismaterial aus sozialen Netzwerken, erheblich an Bedeutung gewonnen. Diese vielen Informationen zusammenzuführen, ist eine große Herausforderung.

Der Kreml hat angekündigt, nicht mit dem IStGH kooperieren zu wollen. Welche Entwicklungen sind jetzt zu erwarten?
Die Beteiligten müssen darauf warten, dass der Haftbefehl gegen Putin vollstreckt wird. Das ist das Problem der Durchsetzung, des sogenannten enforcement, das ja ein Grundproblem des Völkerrechts ist. Parallel dazu ermittelt die Anklagebehörde weiter, auch zu anderen Taten. Schon morgen könnte ein anderer Haftbefehl folgen, sowohl gegen Putin als auch gegen andere Personen.

Könnte Putin auch in Abwesenheit verurteilt werden?
Nein, spätestens zum Hauptverfahren muss der Angeklagte in Den Haag sein, es gibt kein Abwesenheitsverfahren. In der Vergangenheit kam es aber auch durchaus überraschend zu Verhaftungen, etwa bei Slobodan Milošević und Radovan Karadžić, die im Zusammenhang mit dem Kosovokrieg angeklagt wurden. Es ist also offen, wie das weitergeht.

Aus Afrika war in der Vergangenheit gegenüber dem Strafgerichtshof der Vorwurf des Rassismus zu hören: Es würden vor allem afrikanische Täter verfolgt, aber zum Beispiel mögliche Kriegsverbrechen im Irakkrieg nicht ausreichend berücksichtigt.
Dieser Vorwurf liegt lange Jahre zurück und kann inzwischen als überwunden gelten. Auch wenn er ernst zu nehmen war, war er in der Sache damals schon nicht gerechtfertigt. Schließlich waren es afrikanische Staaten, die die ersten IStGH-Verfahren selbst überwiesen haben, und der IStGH ist immer – mit Blick auf sein wichtiges Personal – auch und gerade ein afrikanisches Gericht gewesen. Zum Beispiel war die letzte Chefanklägerin, Fatou Bensouda, aus Gambia, und der letzte Präsident, Chile Eboe-Osuji, aus Nigeria. Auch sprechen afrikanische Regierungen nicht immer für die Zivilgesellschaft, aus der viel Unterstützung für den IStGH kommt.

Momentan habe ich umgekehrt den Eindruck, dass sich Vertreter afrikanischer Staaten wundern, wie stark der Westen und der IStGH in der Ukraine aktiv werden. Dort geht es um weiße Täter und weiße Opfer. Der Vorwurf lautet, dass demgegenüber zu wenig im Hinblick auf Konflikte in Afrika geschehe. Tatsächlich gab es noch nie eine so große Unterstützung für ein Verfahren beim IStGH wie jetzt bei der Ukraine, aber vor allem afrikanische Staaten sehen das eher kritisch.

Die Einbindung Afrikas ist allerdings weniger ein Problem des IStGH als des gesamten politischen Prozesses rund um die Ukraine. Afrikanische Staaten vertreten hier eigene Interessen, die unter anderem mit Rohstoffimporten und militärischer Unterstützung aus Russland zu tun haben.

Viele einflussreiche Nationen sind keine Vertragsstaaten des IStGH, darunter die USA, China und Indien. Welche Rolle spielt das auf dem Weg zu einer sogenannten regelbasierten Weltordnung?
Das Konzept der „regelbasierten Weltordnung“ ist ein westliches, und es ist fragwürdig. Es stellt sich die Frage, über welche Regeln wir hier sprechen. Geht es um die universell geltenden Menschenrechte? Oder um die gerechte Verteilung von Wirtschaftsgütern, also die Weltwirtschaftsordnung? Hier haben ärmere Länder andere Interessen als reiche. Zudem steht der Vorwurf im Raum, dass sich der sogenannte Westen nicht an seine eigenen Regeln hält. Afrikanische Staaten nehmen sehr genau wahr, wenn Doppelstandards angelegt werden. Man darf auch nicht vergessen, dass das heutige Völkerrecht koloniale Wurzeln hat und sich davon nur langsam emanzipiert.

Wenn man eine regelbasierte Ordnung fordert, und das auch noch, wie Frau Baerbock es tat, in den USA, also im Zentrum eines wichtigen Regelverletzers, dann wird das nicht unbedingt goutiert in Staaten, die auch unter dem Imperialismus und den Doppelstandards der USA gelitten haben, sei es in Afrika, Lateinamerika oder Asien. Wir brauchen natürlich Regeln, das ist ganz klar. Und das Gewaltverbot ist eine Grundregel, vielleicht die wichtigste überhaupt. Aber es müssen sich dann eben auch alle an diese Regeln halten. Da gibt es leider bei den westlichen Staaten zu viele Inkonsistenzen und Widersprüche. Es gibt aber auch die sogenannten realists, laut denen es in der internationalen Politik und im Völkerrecht ohnehin nur um Interessen geht und für die die Berufung auf Werte deshalb nur ein Lippenbekenntnis ist.

Was heißt das in Bezug auf den IStGH?
Einerseits wird er von den westlichen Staaten unterstützt, darunter die EU, Australien, Kanada, die Schweiz und andere. Aber die westliche Führungsmacht USA ist kein Vertragsstaat. Und sie verhält sich widersprüchlich. Unter Bush Junior und noch stärker unter Trump wurde der IStGH massiv attackiert und sogar sanktioniert. Die damalige Chefanklägerin Fatou Bensouda konnte, nachdem die Afghanistan-Ermittlungen eröffnet wurden, aufgrund der Sanktionen nicht einmal mehr zu den UN nach New York reisen. Wenn sich jetzt sowohl Republikaner als auch Demokraten positiver zum Gerichtshof äußern, sind sie damit nicht per se für den IStGH, sondern eher durch antirussisches Ressentiment motiviert. Nun ist der IStGH ein willkommenes Instrument, um gegen einen geopolitischen Erzrivalen zu ermitteln. Bezüglich anderer Ermittlungen, etwa gegen Israel, hat sich an der grundsätzlich kritischen Haltung der USA nichts geändert.

Sie fordern also mehr Konsistenz?
Absolut. Ein Staat wie die USA, der sich als Führer der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft sieht, müsste sich dem IStGH anschließen, mit aller Konsequenz. Das ist natürlich eine idealistische Forderung. Aber der Widerspruch, auch innerhalb der NATO, ist offensichtlich: Deutsche, britische oder französische Soldaten in internationalen Missionen unterliegen potenziell dem IStGH – aber nicht die US-Amerikaner, die neben ihnen dienen.

Buch
Ambos, K., 2022: Doppelmoral – Der Westen und die Ukraine. Frankfurt a. M., Westend.

Kai Ambos ist Professor für Strafrecht und Völkerrecht an der Universität Göttingen und Richter am Kosovo-Sondertribunal in Den Haag.
kambos@gwdg.de