Geschichte

Spätzünder mit wachsender Bedeutung

Elegant dekonstruiert der Historiker Kiran Klaus Patel die Gründungsmythen der Europäischen Union (EU). Für deren Rollen als Friedensgarant, Wohlstandsmotor und potenzielle Weltmacht gab es nie einen groß angelegten Plan. Die EU entwickelte sich vielmehr inkremental, indem sie auf Krisen reagierte.
Die deutsche Delegation unter Konrad Adenauer (links) auf der Konferenz 1957 in Rom, bei der die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und Euratom gegründet wurden. picture-alliance/dpa Die deutsche Delegation unter Konrad Adenauer (links) auf der Konferenz 1957 in Rom, bei der die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und Euratom gegründet wurden.

Patels Buch „Projekt Europa“ erschien im vergangenen Jahr bei C.H. Beck. Der Autor ist Geschichtsprofessor an der Universität Maastricht und behandelt gut nachvollziehbar die Beiträge der EU zu Friedenskonsolidierung, Wohlstandsentwicklung und Gestaltung der Weltordnung. Er belegt aber auch, dass diese Rollen bei ihrer Gründung kaum angestrebt wurden.

Im Folgenden wird kurz skizziert, was Patel zu den drei eben genannten Rollen schreibt. Für die Versöhnung des vom Krieg gebeutelten Europa war die EU seiner Meinung nach zwar wichtig, aber eine entscheidende Rolle spielte sie zunächst nicht. Nach 1945 entstanden viele verschiedene, internationale Organisationen, die sich um Frieden in Europa bemühten, aber die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EG), die der erste Vorläufer der EU war, entstand erst ein Jahrzehnt später. Sie diente vor allem ökonomischen Interessen und hatte lediglich sechs Mitglieder – Westdeutschland, Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg. 1957 bündelten diese Länder auch ihre Atompolitik (Euratom) und etablierten eine Wirtschaftsgemeinschaft. Erst Ende der 1950er Jahre wurden daraus die Europäischen Gemeinschaften, die später dann im Singular „Europäische Gemeinschaft“ genannt wurde und aus der in den 1990ern die EU hervorging. Euratom galt lange als die wichtigste der drei Gemeinschaften.

Was Frieden angeht, war ihre Rolle nicht eindeutig, schreibt Patel. Das kleine westeuropäische Bündnis stärkte einerseits Vertrauen und Kooperation unter den Mitgliedstaaten und machte sogar aus den ehedem tief verfeindeten Ländern Deutschland und Frankreich enge Verbündete. Andererseits betrachteten die Sowjetunion und der gesamte Ostblock die EU als bedrohliche Stärkung der Westmächte. In den frühen 1980er Jahren änderte sich diese Wahrnehmung, denn die EU bestand auf der Beibehaltung der Handelsbeziehungen zum Ostblock und milderte so den Eskalationskurs Washingtons im wieder intensiver werdenden Kalten Krieg.

Zum wichtigen Friedensstifter wurde die EU in Patels Augen erst in den 1990er Jahren, indem sie nach dem Kollaps der Sowjetunion den osteuropäischen Ländern Perspektiven bot. Die Osterweiterung der EU war für die friedliche Transformation enorm wichtig gewesen.

Ökonomisch relevant war die EU Patel zufolge auch immer, allerdings war das Bündnis in den frühen Jahren kein Wachstumsbeschleuniger. Vielmehr expandierten die Volkswirtschaften ohnehin schnell, weil der Wiederaufbau nach dem Krieg und neue Technik Chancen boten. Die nationalen Regierungen nutzten die EG aber, um schwierige Übergänge zu managen. So federten die vergemeinschafteten Agrarsubventionen den Strukturwandel im ländlichen Raum und seine Auswirkungen auf kleine Familienhöfe ab, die kaum überlebensfähig waren. Die innereuropäische Migration, besonders von Süditalien in industrialisierte Städte der nördlichen Mitgliedsstaaten, erwies sich als ähnlich wertvoll. Sie federte soziale Spannungen ab und half Engpässe auf dem Arbeitsmarkt zu vermeiden.

Was das Streben der EU nach einer Weltmachtstellung angeht, arbeitet Patel präzise aus, dass Pragmatismus diesen Ehrgeiz immer gedämpft hat und dass die USA die regionale Verflechtung in Europa aus geostrategischen Gründen unterstützten. Selbst wenn „Brüssel“ im Kalten Krieg für Washington manchmal ein schwieriger Partner war, diente der stabilisierende Einfluss der EU auf Westeuropa immer auch den Interessen der USA. Donald Trump ist der erste US-Präsident, der sich offen ablehnend gegenüber der EU äußert.

Im Lauf der Jahre wurde die EG/EU zu einer wichtigen Wirtschafts- und Handelsmacht mit wachsendem Einfluss auf andere Politikfelder. Vor allem im Bereich der Entwicklungshilfe (official development assistance – ODA) war das früh ersichtlich. Ein erheblicher Teil der Fördermittel der Mitgliedsstaaten fließt über die EU an die Entwicklungsländer. Die Nationalstaaten verfolgen zwar eigene Entwicklungsziele, doch die gemeinsame Finanzierung macht die EU zu einem ernst zu nehmenden Partner. Wie Patel zeigt, trug die EU auch viel dazu bei, die Kolonialherrschaft zu überwinden. Die Rhetorik wandelte sich von arroganter Herrschaftsattitüde zu Partnerschaft auf Augenhöhe. Das ist selbst dann wichtig, wenn nicht jedes Versprechen erfüllt wird.

Andererseits spielt die EU in manchen Politikfeldern keine wirkliche Rolle. Auffällig ist das in der Sicherheitspolitik. Die NATO ist offensichtlich viel wichtiger, wie Patel schreibt. Er geht aber nicht darauf ein, dass die EU-Mitgliedschaft auch innerhalb der NATO relevant ist und Regierungen stärkt. Ihre Spitzenpolitiker kennen sich, sind gewöhnt, Absprachen miteinander zu treffen, und neigen eher dazu, gemeinsame Interessen zu verfolgen als nur engverstandene nationale Vorteile zu suchen, wie das in der Vergangenheit der Fall war.


Was die EU stark machte

Es gibt wichtige Gründe dafür, dass aus drei Partikulargemeinschaften mit sechs Mitgliedern die dominante, supranationale Organisation Europas wurde, die nun als globales Modell für Regionalintegration gilt. Laut Patel unterscheiden sich die EU und ihre Vorläuferorganisationen von anderen internationalen Bündnissen in folgenden entscheidenden Punkten:

  • Es ging nie nur um die intergouvernementale Abstimmung, sondern es gab von Anfang an starke supranationale Ansätze mit gemeinsamer Verwaltung, Gesetzgebung und Rechtsprechung. Jede Gemeinschaft wurde von einer Kommission verwaltet, und diese wurden später zu einer einzigen Kommission verschmolzen. Alle Mitglieder mussten und müssen verbindliche, gemeinsame Rechtsvorschriften umsetzen, und der Europäische Gerichtshof sorgt für die Einhaltung. Diese supranationalen Dimensionen machen die EU besonders stark.
  • Entscheidend war zudem die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Sie war lange die wichtigste Gemeinschaft, denn sie erforderte die Koordination aller marktrelevanten Regulierungen. Derlei ist im Leben der Menschen unmittelbar wirksam. Entsprechend groß war und ist die Aufmerksamkeit von Wirtschaft, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft. Die Bürger der Mitgliedsländer spürten folglich die Bedeutung der EG/EU.

Patel zufolge stellte der Spätzünder unter den internationalen Organisationen aus diesen Gründen nach und nach alle Konkurrenten in den Schatten. Die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) etwa war weniger dynamisch, weshalb Großbritannien, Irland und Dänemark in den frühen 1970er Jahren ausstiegen und zur EU überwechselten. Der EU traten danach noch viele weitere Staaten bei. Trotz des Brexit-Referendums hat sich die EU als erstaunlich belastbar erwiesen.

Patel nennt den Grund: die Mitglieder reagierten immer wieder auf Krisen und entwickelten so die frühen Europäischen Gemeinschaften der 1950er Jahre zur heutigen EU fort. Auf die Dramen neueren Datums wie Brexit, Flüchtlingszugstrom oder Euro-Krise geht der Autor nicht ein. Er zeigt aber, was die EU so stabil macht: Sie dient den Interessen ihrer Mitgliedsstaaten, wobei die Institutionen und Entscheidungsprozesse flexibel genug sind, um auf neue Herausforderungen zu reagieren. Patel stellt die Geschichte der EU als Serie erfolgreicher Reaktionen auf Krisen dar – und nicht als konsequente Umsetzung eines rigiden Masterplans.

Die EU ist eine komplexe und vielschichtige, überstaatliche Organisation, in der nationale Regierungen immer noch eine große Rolle spielen. Die Mitgliedschaft in der EU erleichtert ihnen vieles. Patel äußert die auf Erfahrung beruhende Hoffnung, die EU werde nicht auseinanderbrechen, sondern sich zu einer noch bedeutenderen supranationalen Organisation weiterentwickeln. Wie in der Vergangenheit wird das dem Autor zufolge aber eher in vagen Kompromissen und plötzlichen Innovationen geschehen, als Ausdruck großer Prinzipien sein.


Buch
Patel, K. K., 2018: Projekt Europa. München: C.H. Beck.
Die englische Übersetzung („Project Europe“) erscheint im April 2020 bei Cambridge University Press.

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