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Sommer-Special

Hexenjagd, heute und damals

In Ostkenia werden Anschuldigungen der Hexerei erfunden, um ältere Menschen – meist Frauen – aus ihren Häusern zu vertreiben. Ein bewegender und scharfsichtiger Dokumentarfilm zeigt die Verbreitung von Hexenjagd im heutigen Kenia. Dieser Beitrag ist der vierte unseres diesjährigen Sommer-Spezialprogramms mit Rezensionen künstlerischer Werke mit entwicklungspolitischer Relevanz.
Die 94-jährige Margaret, hier bei einer Hochzeitsfeier, muss sich gegen den Vorwurf der Hexerei verteidigen. Press photo Die 94-jährige Margaret, hier bei einer Hochzeitsfeier, muss sich gegen den Vorwurf der Hexerei verteidigen.

Zwischen 1912 und 1915 führte die ältere Witwe Mekatilili wa Menza eine Revolte des Giriama-Stammes gegen die britischen Kolonialherren in Ostkenia an. Die wohl recht charismatische Mekatilili lief von Dorf zu Dorf, hielt Reden und leitete energische Darbietungen des traditionellen Kifudu-Tanzes an, um den Widerstand gegen die Briten anzufachen.

Die Kolonialherren waren wenig begeistert. Der Regionalverwalter Arthur Champion ließ Mekatilili verhaften und in ein Gefängnis im Westen Kenias bringen. Sie entkam, lief nach Hause und setzte ihren Protest fort. Champion ließ sie erneut verhaften und bezeichnete sie als Hexe. Zugleich orderte er Truppen an, große Landstriche zu beschlagnahmen und die Häuser der Protestler niederzubrennen.

Ein Jahrhundert vorgespult. In der Region, in der Mekatilili verfolgt und ihre Leute enteignet wurden, werden ältere Frauen (und wenige Männer) weiterhin als Hexen oder Zauberer bezeichnet und vertrieben. Diesmal aber sind die Verfolger Familienmitglieder der Opfer, die das Land der Alten an sich reißen wollen.

Diese moderne Hexenjagd ist das Thema von „The Letter“, einem Dokumentarfilm des in Kenia ansässigen Ehepaars Maia Lekow, Musikerin und Filmemacherin mit Wurzeln in Ostkenia, und dem australischen Filmemacher Christopher King. Der Film erzählt die Geschichte von Margaret, einer älteren Frau, die im ostkenianischen Kaloleni lebt und von der eigenen Familie der Hexerei bezichtigt wird.

Eigentlich wollten die Filmemacher Mekatililis Geschichte erzählen. Doch ihr Projekt, an dem sie sechs Jahre arbeiteten, wurde zur Untersuchung der modernen Parallele dieser Geschichte: Verfolgung, Raub und sogar Mord an alten, der Hexerei bezichtigten Menschen.

Den Filmemachern nach berichtet die lokale Presse von monatlich rund zehn derartigen Morden, neben hunderten Familienstreitigkeiten um Land und Erbe. Oft werden die Alten per Brief aufgefordert zu gehen, ehe man sie umbringt. Wohltätigkeitsorganisationen haben in der Region Zufluchtstätten eingerichtet für alte Menschen, die solchen Gefahren ausgesetzt sind.

„The Letter” ist nach einem solchen Brief benannt, den Margaret anonym erhalten hat. Darin wird ihr unterstellt, eine Hexe zu sein und einen Fluch auf die Familie gelegt zu haben. Zeitgleich warnt ein ­Facebook-Post vor einer „Alten (in Kaloleni), die Kinder ermordet”. Margarets Enkelsohn Karisa, der in Mombasa arbeitet, liest diesen Post und fährt in seine Heimatstadt, um die Sache zu untersuchen.

Durch vorsichtiges Nachfragen findet Karisa heraus, dass ein Onkel namens Furaha hinter der Drohung steckt. Nach dem Tod seiner Mutter war Furaha bei Margaret, deren Schwester, aufgewachsen. Traditionsgemäß hatte Furahas Vater daraufhin Margaret geheiratet, die Furaha und seine Geschwister, zusammen mit ihren eigenen Kindern aus der Ehe mit Furahas Vater, aufzog. Der „adoptierte” Sohn fühlte sich nie als Margarets richtiger Sohn und sorgte sich um seinen Anteil an ihrem Erbe.

Furahas Anschuldigungen, vor allem aus Aberglauben und Praktiken der Pfingstkirche gespeist, spalten die Familie. Um des lieben Friedens willen und zu ihrer Sicherheit willigt Margaret ein, eine Art Reinigungszeremonie über sich ergehen zu lassen durch einen selbsternannten Priester, den Furaha aus Mombasa mitbringt.

Der sogenannte Priester zwingt Margaret zu schwören, keine Hexe zu sein. Er dreht den Lautsprecher ohrenbetäubend laut auf, um die Spannung zu erhöhen, und verbreitet Angst. „In sieben Tagen wird Gott erscheinen,” ruft er. „Ich bete dafür, dass keiner sterben oder erblinden wird.”

Margaret sitzt mit den Frauen aus ihrer Familie und Karisa sowie ihrem eigenen lokalen Priester an der Seite stoisch etwas abseits davon. Sie ist präsent, weigert sich aber, an der Scheinzeremonie teilzunehmen. Schließlich verlassen die Eindringlinge aus Mombasa und Furaha mit seinen Unterstützern die Szene mit der Warnung, in den nächsten sieben Tagen zeige sich, ob Margaret eine Hexe sei. Die sieben Tage verstreichen ohne Zwischenfall. Die zu dieser Zeit 94-jährige Margaret darf den Rest ihrer Tage somit einigermaßen friedlich verbringen.

„The Letter”, wunderschön gefilmt, mit einem nahen Zugang zur Familie und begleitet von eindrücklicher Filmmusik von Maia Lekow, ist eine abschreckende Geschichte. Margaret hat die Tortur und den versuchten Rufmord überlebt – viele Gleichaltrige in der Region hatten weniger Glück.

Zufälligerweise kam Margaret 1925, ein Jahr nach dem Tod Mekatililis, zur Welt. Keine dieser mutigen und starken Frauen war eine Hexe. Aber die Gefahr, als Hexe verfolgt zu werden – was beide mit Mut und Würde ertrugen –, besteht leider bis zum heutigen Tag.


Film
The Letter, 2019, Kenia, Regie: Maia Lekow und Christopher King.
 

Aviva Freudmann ist freie Journalistin in Frankfurt.
frankfurterin2009@gmx.de